01 - Der Geist, der mich liebte
da an ging es mit Cedars Creek bergab. Viele der Männer, die an der Verbrennung teilgenommen hatten, konnten mit der Schuld nicht leben und begingen Selbstmord. Der Ort wurde beinahe zu einer Geisterstadt mit nur noch wenigen Männern und einer
Menge Witwen mit ihren Kindern. Als die Kinder groß wurden, versuchten sie Cedars Creek wieder Leben einzuhauchen. Jemand hatte die Idee, die Schwefelquellen zu nutzen und das Dorf zu einem Kurort zu machen. Das ging gewaltig schief. Außer dem Schwefel war noch etwas anderes im Wasser. Etwas, was bis in die heutige Zeit nicht nachgewiesen werden konnte. Was auch immer es ist: Es machte die Menschen, die in den Quellen badeten, krank. Sie bekamen Ausschlag und heftige Krämpfe, die sie tagelang außer Gefecht setzten. Keine Ahnung, ob die Baker-Schwestern dagegen immun waren oder ob es erst nach ihrem Tod ins Wasser gelangt war. Damit war die Idee des blühenden Kurortes jedenfalls begraben und Cedars Creek einmal mehr vom Aussterben bedroht.
Erst als Cedric Crowley mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Söhnen hierherzog, änderte sich das. Anfangs wohnte er mit seiner Familie am Ortsrand - dort, wo heute die Crowley Distillery steht. Zu Zeiten der Prohibition hatte er einen blühenden Handel mit Schnaps am Laufen. Er hat das Zeug heimlich in seinem Schuppen gebrannt und überallhin geliefert. Damit hat er sich eine goldene Nase verdient. Am selben Tag, an dem das Ende der Prohibition bekannt gegeben wurde, hat er mit dem Bau der Distillery begonnen. Genügend Geld - und auch Kunden - hatte er ja. Die Distillery ist schnell zum größten Arbeitgeber geworden. Aus der umliegenden Gegend sind Männer und Frauen nach Cedars Creek gezogen, um hier zu leben und zu arbeiten. Der Ort ist gewachsen. Als sein Handel immer weiter florierte, kaufte er der Gemeinde das ehemalige Anwesen
der Baker-Schwestern ab und baute dort oben sein protziges Herrenhaus.« Tess beugte sich über den Tisch zu mir. »Wenn du mir versprichst, es niemandem zu sagen, verrate ich dir ein Geheimnis.«
Was konnte jetzt noch kommen? »Versprochen. Raus damit!«
Obwohl sie die Bibliothek abgeschlossen hatte, sah sich Tess nach allen Seiten um. Plötzlich fühlte ich mich wie ein Verschwörer, der plante, die Regierung zu stürzen oder etwas in der Art. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass tatsächlich niemand da war, begann sie zu sprechen. »Als Crowley sich damals die alten Fundamente des Hauses besah, entdeckte er einen alten Keller, verborgen unter den verkohlten und vom Grünzeug überwucherten Überresten des Hauses. Im Gegensatz zum restlichen Haus war der Keller gemauert. Darin fand er eine Handvoll alter Bücher. Allesamt über Hexerei!«
»Also waren die Baker-Schwestern tatsächlich Hexen?«, entfuhr es mir. »Woher willst du das wissen?«
»Im Keller der Bibliothek gibt es ein geheimes Archiv. Die Bücher liegen dort verschlossen und ohne Wissen der Öffentlichkeit. Cedric Crowley hat den Reverend gerufen. Auf seinen Wunsch hin wurden die Bücher dort im Archiv eingesperrt.«
»Warum hat er sie nicht vernichtet?«, fragte ich heiser.
Tess zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht hatte er Angst, damit etwas Böses heraufzubeschwören?«, fragte sie mit dem Anflug eines Grinsens. »Oder er hat es versucht, aber die Bücher ließen sich nicht vernichten?«
»Du nimmst mich doch auf den Arm!«
»Ich schwöre, dass die Bücher dort liegen.« Tess schwieg, dann fragte sie: »Sag mal, hat dir deine Tante wirklich nie von den Baker-Schwestern erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Warum sollte sie? Tante Fiona hat nie viel von Spuk und übersinnlichem Hokuspokus gehalten.«
»Hokuspokus?«, schnappte Tess entrüstet. »Nach dem, was ich dir gerade erzählt habe, glaubst du immer noch nicht daran?«
Ich wollte nicht daran glauben. Das konnte ich mir nicht erlauben. In dem Moment, in dem ich zugab, dass mehr zwischen Himmel und Erde existierte, als ich mir erklären konnte, würde ich mich nicht mehr in mein Haus zurücktrauen. Denn dann bestand auch die Möglichkeit, dass es da tatsächlich spukte. Die Vorstellung eines schlechten Traums und übler Architektur gefiel mir weit besser als die, einen Geist im Haus zu haben. Fast schon war ich versucht, Tess davon zu erzählen. Ich wollte ihr von der Kälte und der Erscheinung berichten, die ich in der ersten Nacht über meinem Bett gesehen hatte. Aber ich hielt den Mund. Tess war so vernarrt in den Gedanken an
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