01 - Der Geist, der mich liebte
traurig.« Plötzlich verstummte sie und sah mich prüfend an. »Weißt du wirklich nichts über die Baker-Schwestern?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Hat dir deine Tante nie davon erzählt?«
Tante Fiona war durch und durch Lehrerin gewesen. Sie hatte immer nur das geglaubt, was sie sehen oder zumindest wissenschaftlich erklären konnte. »Tante Fiona hatte nie etwas für Geistergeschichten übrig. Jetzt erzähl schon!«
Tess seufzte. »Eigentlich ist das eine Geschichte für ein Lagerfeuer oder wenigstens für Kerzenschein. Nicht für Neonlicht.«
»Es geht hier doch auch nicht darum, mir Angst zu machen, sondern meine Neugierde zu stillen. Also raus mit der Sprache!«
»Gruselgeschichten sollen aber Angst machen«, sagte sie und schob sich den letzten Bissen ihres Burgers in den Mund. Ich hatte meinen noch nicht einmal aus dem Papier gewickelt. Was das Essen anging, schien das heute nicht mein Tag zu sein. Die Geschichten interessierten mich weit mehr als das Essen, das vor mir lag.
»Also schön.« Tess sah mich an und wartete, bis ich ihr mit einem ungeduldigen Nicken signalisierte, dass ich bereit war. Dann endlich begann sie: »Das alles geschah im Jahr sechzehnhundertdreiundneunzig. Damals war Cedars Creek ein noch viel kleineres Nest als heute. Die Menschen waren sehr gläubig und fürchteten alles, was anders war. Sie züchteten Vieh oder lebten von dem, was ihr Handwerk ihnen einbrachte. Die Frauen trugen einfache Kleider mit Schürzen und Spitzenhauben«, grinste sie, und ihr war deutlich anzusehen, wie absurd sie die Vorstellung 88 fand.
Eigentlich wollte ich etwas über das Haus wissen, nicht darüber, was die Leute damals anhatten. Doch Tess war so
sehr in ihrem Element, ihre Augen strahlten vor Begeisterung, dass ich sie nicht unterbrach.
»Die Häuser waren kleiner als heute und vollständig aus Holz. Auch das Haus auf dem Hügel, das heute Adrians Familie gehört, war natürlich viel kleiner. Dort wohnten die Baker-Schwestern. Prudence und Harmony. Die beiden hatten die dreißig längst hinter sich gelassen und waren immer noch nicht verheiratet. Allein dieser Umstand muss den Dörflern schon ein Dorn im Auge gewesen sein. Doch das war nicht das einzig Merkwürdige an den Schwestern.« Tess machte eine kurze Pause und griff nach ihrer Cola. Während sie trank, musterte sie mich sehr genau. Als wollte sie abschätzen, ob sie mich mit ihrer Geschichte in den Bann geschlagen hatte. Das hatte sie. Trotzdem zwang ich mich, den Mund zu halten und zu warten, bis sie ihren Becher abstellte und weitererzählte.
»Die beiden Baker-Schwestern«, fuhr sie endlich fort, »blieben am liebsten unter sich. Selbst zu ihrer anderen Schwester - Sarah -, die mit Melvin Larson verheiratet war und mit ihrem Mann und den Kindern im Ort lebte, hatten sie keinen Kontakt. Nach allem, was ich in den alten Chroniken fand, wollte auch Sarah mit den beiden nichts zu tun haben.
Prudence und Harmony empfingen keinen Besuch und niemand wagte sich zu ihrem Haus hinauf. Sie ließen sich nur selten im Ort sehen, und dann auch nur, um rasch ihre Einkäufe zu erledigen. Zu den Leuten waren sie höflich, grüßten, wenn sie an jemandem vorüberkamen, blieben jedoch nie stehen, um sich zu unterhalten. Nicht dass ich
glaube, jemand hätte mit ihnen sprechen wollen. Obwohl sie nie an den gemeinsamen Aktivitäten der Dorfbewohner teilnahmen, kamen sie jeden Sonntag in die Kirche. Sie kamen stets als Letzte und waren die Ersten, die wieder gingen. Während der Messe saßen sie immer in der hintersten Reihe.
Natürlich begannen die Menschen mehr und mehr über die wunderlichen Schwestern und ihr seltsames Haus, das von jedem Platz in Cedars Creek zu sehen war, zu reden. Der Gemischtwarenhändler, bei dem die beiden immer einkauften, behauptete sogar, die Baker-Schwestern wären stets von Schwefelgeruch umgeben. Buhlen des Teufels seien sie! Das steht wortwörtlich so in der Stadtchronik.«
»Woher weißt du das so genau?«
»Du hast ja selbst gesehen, dass sich hier Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Ich werde nur selten von Kundschaft überrannt«, grinste Tess. »Das Stadtarchiv ist im Keller untergebracht, und manches, was dort liegt, ist spannender als jeder Roman.« Tess' Blick fiel auf meinen Burger. »Sag mal, willst du nichts essen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Zu spannende Geschichte. Erzähl weiter!«
»Jedenfalls sprachen bald alle von einem seltsamen Geruch, der den Schwestern anhaftete.«
»Anhaftete?«,
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