01 - Der Geist, der mich liebte
geschah.
Natürlich nicht. Was sollte auch passieren ? »Na los!«, rief ich, mutiger geworden. »Was ist? Traust du dich nicht? Wer zum Teufel...«
Ein eisiger Hauch nahm mir den Atem. Dann, als würde
ein unsichtbarer Finger schreiben, erschienen plötzlich Buchstaben auf dem beschlagenen Spiegel. Ein einziges Wort:
Nicholas
Ich starrte auf den Schriftzug. »Es gibt keine Geister«, murmelte ich, doch meine Stimme zitterte. Alles in mir schrie danach, kehrtzumachen und davonzulaufen. Aber meine Beine waren wie gelähmt. Ich war unfähig, den Blick vom Spiegel zu nehmen. Zu groß war meine Furcht, mich im Raum umzusehen. Was, wenn niemand hier war? Kein Einbrecher. Kein Eindringling. Nichts. Was sollte ich dann tun?
Langsam verzog sich der Dampf. Doch selbst als die Buchstaben zu verblassen begannen und mir bald nur mein eigenes, ziemlich bleiches Gesicht aus dem Spiegel entgegensah, glotzte ich immer noch auf die Stelle, an der ich glaubte, einen letzten Hauch des Namens erkennen zu können.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass die Kälte gewichen war. Die Raumtemperatur war wieder gestiegen. Wer oder was auch immer hier gewesen war, war jetzt fort. Nur langsam fiel die Erstarrung von mir ab. Sobald ich wieder in der Lage war, mich zu bewegen, zog ich mich hastig an. Ich hatte alles, nur keine Schuhe. Wie hätte ich auch ahnen können, dass ich nach dem Duschen aus dem Haus fliehen musste ? Ich legte die Hand auf den Türgriff, ohne ihn zu drehen. Mein Herz hämmerte noch immer wie wild. Was würde mich draußen erwarten? Unzählige Szenen aus Horrorfilmen zuckten in rascher Abfolge durch meinen Kopf. Eine schrecklicher als die andere. Ich wollte nur noch weg! Ehe ich die Badtür öffnete, atmete ich noch einmal tief durch. Es fiel mir immer schwerer, meine wachsende Panik zu kontrollieren.
»Jetzt oder nie!« Ich riss die Tür auf und stürzte auf den Gang hinaus. Die Kälte war hier. Er war hier. Nicholas.
Was für ein Blödsinn! Niemand war hier! Zugluft - eine Menge Zugluft - und Tess' Hexengeschichte ließen mich durchdrehen. Das war alles. Aber was war mit der Schrift auf dem Spiegel? Einbildung!
»Nicholas?«, rief ich leise, um mir zu beweisen, dass ich allein war.
Augenblicklich erhob sich ein kühler Hauch, streifte über meinen Arm und brachte Bewegung in die Gardinen. Das war genug! Mit einem Schrei stürmte ich die Treppe nach unten, packte Rucksack und Turnschuhe und floh aus dem Haus. Ich schlug die Tür hinter mir zu, ohne abzusperren. Damit hätte ich höchstens einen Zombie abhalten können, aber keinen Geist.
Ich rannte zum Wagen, warf meine Sachen auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Mit quietschenden Reifen setzte ich auf die Straße zurück, riss das Lenkrad herum und brauste davon.
Zu meinem Glück gab es in der Maple Street keinen und in den angrenzenden Straßen nur wenig Verkehr. Andernfalls hätte ich mit Sicherheit einen Unfall gebaut, denn ich nahm erst wieder etwas von meiner Umgebung wahr, als ich die Tankstelle am Ortsrand erreichte. Ich fuhr auf den kleinen Parkplatz und blieb dort stehen.
Eine ganze Weile saß ich hinter dem Steuer und wartete darauf, dass mein Herzschlag sich wieder beruhigte. Als mein Puls mir nicht länger in den Ohren dröhnte, griff ich mit zitternden Fingern nach meinen Schuhen und zog sie an.
Dann lehnte ich mich im Sitz zurück und schloss die Augen. Was sollte ich jetzt tun? Da kam mir ein anderer, beunruhigender Gedanke: Was, wenn er mir gefolgt war? Ich riss die Augen wieder auf und sah mich um. Halb erwartete ich, jeden Augenblick die Kälte zu spüren. Doch das geschah nicht. Bisher war mir die Kälte noch nie außerhalb des Hauses begegnet. Vielleicht konnte er das Haus ja nicht verlassen.
Und was sollte ich jetzt tun ? Da saß ein Geist in meinem
Haus! Ich konnte doch jetzt unmöglich zurückfahren und einfach so tun, als sei nichts geschehen!
Tess!
Sie würde mir helfen. Vielleicht konnte ich bei ihr übernachten, bis ich eine Lösung für mein Problem gefunden hatte. Vielleicht konnte ein Priester das Haus segnen oder den Geist austreiben. Egal was, Hauptsache, ich hatte das Haus danach für mich allein.
Nachdem ich mich endlich wieder halbwegs beruhigt hatte, ließ ich den Motor an und fuhr zur Bibliothek. Es überraschte mich nicht wirklich, dass sie geschlossen war. Diesmal lag es allerdings nicht an Tess, sondern wirklich an den Öffnungszeiten. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass es bereits dämmerte. Fluchend stand
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