01 - Der Geist, der mich liebte
Wand verschmelzen. Dann war er verschwunden. Einen Atemzug später trat er an derselben Stelle wieder in den Raum.
»Das ist wirklich unglaublich!«
Nicholas kehrte zur Couch zurück und setzte sich wieder. »Für mich ist das ebenso normal, wie es für dich normal ist, etwas zu berühren.«
Damit mochte er Recht haben. Aber Gegenstände konnte ich jeden Tag berühren und ich konnte auch ständig beobachten, wie andere es taten. Dass jemand durch eine Wand ging, sah ich zum ersten Mal.
Ich biss von meinem Sandwich ab. Gerne hätte ich ihm auch etwas angeboten. Tatsächlich kam ich mir wenig gastfreundlich vor, auch wenn mir natürlich klar war, dass er weder Essen noch Trinken brauchte. »Erzähl mir etwas von dir«, bat ich, während ich aß.
»Was willst du wissen?«
Ich dachte kurz nach. Natürlich wollte ich alles über ihn wissen, wollte aber nicht unhöflich sein. »Wie bist ... was ist...« Die Frage wollte mir einfach nicht über die Lippen kommen.
»Wie ich gestorben bin?«
Ich nickte. Mein Blick fiel auf das Sandwich in meiner
Hand. Ich konnte unmöglich hier sitzen und essen, während Nicholas mir von seinem Tod erzählte. Eine solche Geschmacklosigkeit wäre wohl nur noch zu überbieten gewesen, wenn ich statt des Sandwiches eine Tüte Popcorn gehabt hätte. Hastig legte ich das Sandwich auf den Teller zurück.
»Es war ein Unfall«, begann er nach einer Weile. Sein Blick war auf einen Punkt gerichtet, der nicht in diesem Raum lag, sondern irgendwo in der Vergangenheit. Im Jahr I955 - stritt mich mit meinem Bruder um ein Buch. Jeder von uns hielt ein Ende gepackt und zerrte, daran. Wir standen auf dem Flur, im obersten Stock unseres Hauses. Er entriss mir das Buch. Dabei geriet ich ins Stolpern und verlor das Gleichgewicht. Ich prallte mit dem Rücken gegen das Fenster und brach durch die Scheibe. Ich weiß noch, wie ich fiel. Es war ein merkwürdiges Gefühl, schwerelos, schwebend. Für einen Moment glaubte ich, mir könne nichts geschehen.« Plötzlich wirkte er so traurig, dass ich unwillkürlich die Hand nach ihm ausstreckte. Meine Finger glitten über seinen Handrücken, ohne etwas zu berühren. Trotzdem drehte er die Hand und umfasste meine Finger. Es war ein seltsam unwirkliches Gefühl, ganz kühl und leicht. Nicholas mochte nicht körperlich sein, doch durch die Kälte, die ihn umgab, konnte ich ihn dennoch spüren. Ich ließ meine Hand, wo sie war. In der Luft schwebend, umgeben vom Hauch seiner Finger. Da hob er den Kopf und lächelte traurig. »Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist meine eigene Beerdigung. Ich stand inmitten meiner Familie, sah, wie sie weinten und trauerten. Ich rief ihnen zu,
dass mit mir alles in Ordnung sei, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten und ich doch hier wäre. Niemand hörte mich. Niemand sah mich. Sie ließen meinen Sarg hinab und bedeckten ihn mit Erde, erst nur einzelne Schaufeln, dann immer mehr ... Das war ... schlimm.« Plötzlich stockte er und sah mich entsetzt an. »Sam! Um Gottes willen, nicht weinen!«
Jetzt erst bemerkte ich, dass mir Tränen über die Wangen liefen. Ich zog meine Hand zurück und wischte sie ab. »Entschuldige. Ich wollte nicht... Das ist eine sehr traurige Geschichte.«
»Jeder muss irgendwann sterben. Manche sind sehr alt und schlafen einfach ein, andere sind krank oder haben - wie ich - einen Unfall. Deshalb musst du doch nicht traurig sein.«
In einem hatte er Recht. Der Tod traf jeden. Was mich daran so traurig machte, war auch nicht die Tatsache, dass er gestorben war. Viel schlimmer fand ich, was er danach erlebt hatte. Zu sehen, wie meine Familie vor meinem Grab steht und um mich trauert, stand nicht gerade ganz oben auf meiner Wunschliste.
»Ich hätte dir das nicht erzählen sollen«, sagte er.
»Nein, bitte. Ich will das wissen. Ich muss doch wissen, wer du bist und wie du hierherkommst. Wie soll ich dir helfen, wenn ich deine Geschichte nicht kenne?«
»Du bist wirklich etwas ganz Besonderes.« Der Blick, mit dem er mich auf einmal bedachte, ließ mein Herz schneller schlagen.
»Unsinn!«, wehrte ich ab.
»Nichts Unsinn. Das ist mir schon am ersten Tag aufgefallen. Nicht nur, dass du sensibel genug warst, meine Anwesenheit überhaupt zu spüren, obendrein bist du auch noch mutig und entschlossen. Wie viele Leute kennst du, die in ein Zimmer zurückgekehrt wären, wenn sie wissen, dass dort ein Geist sitzt?«
»Das ist eine unfaire Frage«, beschwerte ich mich. Seine Komplimente machten
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