01 - Der Geist, der mich liebte
er mich necken.
»Mach dich ruhig über mich lustig«, knurrte ich und stand auf, um ins Bad zu gehen.
Während ich mir die Zähne putzte, fiel mir ein, dass ich vollkommen vergessen hatte, mit ihm über Tess zu sprechen. Ich wusste also immer noch nicht, ob es ihm Recht war, wenn ich sie zu einem Treffen einlud. Das war der zweite Punkt auf der Tagesordnung meiner Selbstgespräche. Sobald ich aus dem Bad kam, warf ich die Frage in den Raum und bat ihn, sie mir später zu beantworten. »Tess
versteht eine Menge von ... Ich weiß nicht mal, wie man das Zeug nennt. Ist das Esoterik?« Ich zuckte die Schultern. »Jedenfalls ist die Beschwörung ihr zu verdanken. Sie hat eine Menge Bücher über ... Geister und so. Vielleicht kann sie uns helfen, einen Weg zu finden, dich zu befreien.«
Während des Frühstücks sagte ich kein Wort. Mit vollem Mund Selbstgespräche zu führen, wäre mir noch schlimmer vorgekommen, als es ohnehin schon war. Erst als ich später oben im Arbeitszimmer stand und mich daranmachte, die Möbel von der Wand zu rücken, damit ich Platz hatte, die Tapeten von den Wänden zu spachteln, begann ich wieder zu sprechen. Na ja, sprechen war wohl ein wenig zu viel gesagt. Abgehackte Sätze traf es wohl eher. Ich kam mir einfach immer noch dämlich vor. Abgesehen davon geriet ich von der ganzen Möbelrückerei reichlich außer Puste. Bald war mir so heiß, dass ich mir nicht einmal mehr sicher war, ob Nicholas überhaupt noch in der Nähe war. Trotzdem redete ich weiter. Ich erzählte ihm, dass ich aus Minneapolis kam - nur für den Fall, dass er das Nummernschild am Käfer noch nicht gesehen hatte -, und sprach eine Weile darüber, wie ich dort lebte. Anfangs fiel es mir wirklich enorm schwer, einfach so vor mich hin zu reden und nicht zu wissen, ob er noch da war oder längst vor Langeweile die Flucht ergriffen hatte. Was erzählt man über sich, wenn einem niemand Fragen stellt?
Als ich einmal mehr ins Stocken geriet und unsicher wurde, spürte ich einen kühlen Hauch, diesmal an meinem Arm. Als wollte er mir sagen: Sprich weiter, ich bin noch da. Seine Nähe zu spüren, machte es mir leichter. Irgendwie
schaffte ich es sogar, mir vorzustellen, er würde auf der Kante des Schreibtischs sitzen und mir zuhören.
Da kam mir plötzlich ein Gedanke, wie er sich mir zumindest ein wenig verständlich machen konnte. »Wenn du neben mir bist, kann ich das spüren. Auf diese Weise könntest du meine Fragen zumindest mit Ja und Nein beantworten«, überlegte ich laut. »Wenn du über meine linke Hand streifst, bedeutet es Ja. Die Rechte heißt Nein.« Ich sah mich im Raum um, versuchte zu erahnen, wo er war. »Einverstanden?«
Einen Herzschlag später wurde die Luft an meiner linken Hand kühl. Also Ja. »Klasse! Hast du darüber nachgedacht, was ich über Tess gesagt habe?« Wieder die linke Hand. »Und? Ist es dir Recht, wenn ich sie heute Abend herhole?« Noch einmal links. Ich nickte zufrieden.
Bis zum Mittag wusste Nicholas über alle meine Freunde Bescheid. Er kannte meine Lieblingsfächer in der Schule und während des Studiums, wusste, welche Filme ich besonders mochte, was für Musik ich hörte und welche Farben mir gefielen. Ich beichtete ihm sogar, wie fremd Sue mir bei unserem gestrigen Gespräch erschienen war.
Als ich einmal nach unten ging, um mir eine neue Flasche Wasser zu holen, kam ich an den Familienfotos vorüber. Ich blieb stehen und deutete auf eines der Bilder. »Das ist mein Dad«, erklärte ich. »Er starb, als ich neun war. Autounfall mit Fahrerflucht.« Nicholas war ganz nah, das konnte ich spüren. Ich hatte mich erstaunlich schnell an seine Gegenwart gewöhnt, und zu meiner eigenen Überraschung fühlte ich mich in seiner Nähe wohl - selbst wenn ich ihn nicht
sehen konnte. Ich rede nur selten über Dad, wenn überhaupt, und nur mit Leuten, die mir nahestehen. Jetzt erzählte ich Nicholas davon, wie sehr Dads Tod mein Leben verändert und welche Mühe sich Tante Fiona in all den Jahren gegeben hatte, ihn zumindest ein wenig zu ersetzen. Ich sprach über Mom und Brian und darüber, wie meine Kindheit gewesen war. Zweigeteilt. Die eine Hälfte mit Vater, die andere ohne. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich wieder von den Fotos losreißen und an meine Arbeit zurückkehren konnte. Mit einem Spachtel bewaffnet rückte ich wieder den Tapeten zu Leibe.
»Ich habe einen Job in Boston bekommen. In zwei Monaten kann ich anfangen«, berichtete ich stolz. »Das ist die Chance
Weitere Kostenlose Bücher