01 - Der Geist, der mich liebte
mich ganz verlegen. »Ich kenne niemanden, der bisher einem Geist begegnet wäre. Wie soll ich da einen Vergleich ziehen?«
»Ich will damit auch nur sagen, dass du Dinge getan hast, die alles andere als selbstverständlich sind. Für mich bist du etwas Besonderes.«
Ich spürte, wie ich rot wurde, und sah seinen Blick. »Könntest du vielleicht einfach weitererzählen, bevor die ganze Situation noch peinlicher wird?«
Nicholas unterdrückte ein Lächeln, dann wurde er sofort wieder ernst. »Aber bitte nicht mehr weinen, ja?« Er seufzte. »Die Beerdigung war nicht schön. Noch scheußlicher war es jedoch zu sehen, welche Vorwürfe Adrian sich machte.«
»Adrian?«, fiel ich ihm ins Wort.
»Mein Bruder.«
Das musste ein Zufall sein. »Ich kenne auch einen Adrian. Hier in Cedars Creek. Er ist der Erbe der Crowley Distillery.«
Nicholas starrte mich wie vom Donner gerührt an. »Wie alt ist er?«
»Keine Ahnung. Etwa so alt wie ich.«
»Dann muss er mein Großneffe sein.« Adrian Crowley junior. So hatte er sich vorgestellt. Ein deutlicher Hinweis, dass es schon einmal einen Adrian in seiner Familie gegeben haben musste. »Du bist also ein Crowley?«
»Mein Vater war Cedric Crowley, der Begründer der Distillery.«
»Dann muss Adrians Großvater dein Bruder sein«, überlegte ich laut.
»Weißt du, wie es ihm geht?«
Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, was Adrian mir über seinen Großvater erzählt hatte. »Soweit ich gehört habe, ist er schon ziemlich alt und krank. Adrian - der junge Adrian - ist eigens auf seinen Wunsch hin aus New York nach Cedars Creek zurückgekehrt, um die Distillery zu übernehmen.«
»Adrian - mein Bruder - ist diesen Sommer dreiundsiebzig geworden.«
Zum ersten Mal fragte ich mich, wie alt Nicholas sein mochte. Bisher wusste ich nur, in welchem Jahr er gestorben war.
»Ich bin 1928 geboren«, sagte er, als könne er meine Gedanken lesen.
Ich rechnete kurz nach. Vor mir saß ein Achtundsiebzigjähriger mit dem blendenden Aussehen eines jungen Mannes! Wenn man jetzt noch bedachte, dass er seit über fünfzig Jahren tot war ... Ich schüttelte den Kopf. Das brachte mich entschieden zu nah an die Grenzen meiner Vorstellungskraft. »1928«, wiederholte ich leise.
Eine Weile konnte ich ihn nur ansehen, dann bat ich ihn, mir zu erzählen, was nach seinem Tod geschehen war und auf welchen Wegen er versucht hatte, sich anderen bemerkbar zu machen. Wieder und wieder gingen wir alles bis ins Detail durch. Doch mir wollte einfach kein Grund einfallen, warum er keinen Frieden finden konnte.
Als am Horizont langsam die Dämmerung heraufzuziehen begann, sagte Nicholas: »Jetzt haben wir genug über mich geredet. Ich würde gerne etwas über dich wissen. Erzähl mir von dir und von deinem Leben.«
»Es wird gleich hell.«
»Dann eben morgen Nacht.«
»Kommt nicht infrage!«, protestierte ich. »Die Nacht ist viel zu kurz, und kaum kann ich mich mit dir unterhalten, bist du wieder unsichtbar! Die Zeit reicht so schon kaum, dich kennenzulernen!«
»Dann erzähle ich eben in der Nacht und du tagsüber«, schlug er vor.
»Was?«, schnappte ich. »Ich soll mit jemandem sprechen, den ich nicht sehen kann? Ich würde mir wie ein völliger Idiot vorkommen! Seit ich hier bin, führe ich schon genug Selbstgespräche!«
»Und ziemlich unterhaltsame noch dazu«, bemerkte er grinsend.
Peinlich berührt erinnerte ich mich an das eine oder andere Gespräch, das ich mit mir über Zombies und Gespenster geführt hatte. »Hauptsache, du hattest deinen Spaß«, grollte ich.
»Ich möchte einfach mehr über dich wissen, Sam. Ist das
so schwer zu verstehen?« Er begann schon wieder durchscheinend zu werden. Das Letzte, was ich von ihm sah, waren seine unglaublich blauen Augen, in denen immer noch die Bitte geschrieben stand, etwas von mir zu erzählen. Dann war er fort.
»Meinetwegen«, seufzte ich. »Du sollst deinen Willen haben. Aber erst will ich ein paar Stunden schlafen.«
Aus den paar Stunden Schlaf wurden gerade mal drei. Ich erwachte kurz nach neun, weil mir die Sonne so grell ins Gesicht schien, dass ich sie einfach nicht länger ignorieren konnte. Trotz meiner Müdigkeit hatte ich es zwar noch geschafft, mich in mein Bett zu schleppen, hatte aber einmal mehr vergessen, die Vorhänge vorzuziehen.
Stöhnend setzte ich mich auf. »Okay, Nicholas, hier hast du die erste Information über mich: Ich bin ein ausgemachter Morgenmuffel.«
Ein kühler Luftzug streifte meine Wange, als wolle
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