01 - Der Geist, der mich liebte
verzichten, die mir noch blieb, bevor es hell wurde?
Nicholas ignorierte meinen Protest einfach. »Wir gehen jetzt nach oben.« Obwohl er mich nicht berühren konnte, schaffte er es, mich in mein Schlafzimmer zu bugsieren. Genau genommen köderte er mich mit dem Versprechen, mir mehr über sich zu erzählen, wenn ich nach oben ging. Er erinnerte mich sogar daran, diesmal die Vorhänge zuzuziehen. Dann scheuchte er mich ins Bad. Als ich kurz darauf in meinem Schlafanzug zurückkehrte, saß er bereits im Sessel. Ich hockte mich im Schneidersitz aufs Bett und sah ihn an. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, waren seine
blauen Augen, die voller Wärme auf mir ruhten.
Ich erwachte kurz vor Mittag.
Die Kälte, die zu meinem ständigen Begleiter geworden war, war nicht da. »Nicholas?« Ich setzte mich auf. »Bist du hier?«
Ein kühler Hauch an meiner Wange brachte mich zum Lächeln. Beruhigt ließ ich mich in die Kissen fallen und schlief sofort wieder ein. Nachdem ich in den vergangenen Tagen nur wenig geschlafen hatte, forderte mein Körper jetzt sein Recht.
Als ich das nächste Mal aufwachte, lag ich unter der Bettdecke. Ich konnte mich nicht erinnern, mich zugedeckt zu haben. »Warst du das?«, murmelte ich. Eine Berührung an meiner linken Hand. Also ja. »Ich dachte, du kannst nichts berühren.« Dann die Erkenntnis: »Mein Atem.«
Wieder ein kühler Hauch an meiner linken Hand.
Im ersten Moment war ich ein wenig erschrocken. Ich erinnerte mich deutlich genug, was er über den Atem der Lebenden und darüber, wie schwer es sei, dem Drang des Lebens zu widerstehen, gesagt hatte. Mein anfänglicher Schrecken wich schnell. Nicholas hatte sich unter Kontrolle. Diese Erkenntnis beruhigte mich und erfüllte mich mit wohliger Wärme.
In den nächsten Tagen schlief ich ein wenig mehr - allerdings nie in der Nacht. Ich wollte keine Sekunde verschwenden, die ich in Nicholas' Gegenwart verbringen konnte. Im Gegensatz zu ihm konnte ich ihn ja nur während der Nachtstunden sehen. Mein Schlaf ging also auf Kosten meiner Arbeit. Statt zu renovieren, schlief ich bis zum frühen Nachmittag, ging dann ins Bad, machte mir etwas zu essen und stürzte mich dann für drei oder vier Stunden in die Arbeit.
Anfangs dachte ich häufig daran, Mom und Sue anzurufen. Einmal tat ich es sogar und wählte Moms Nummer. Es war ein kurzes Gespräch. Mom war erstaunt, wie fröhlich ich trotz all der Arbeit, von der ich ihr berichtete, klang. Ich konnte ihr schlecht erzählen, dass meine Fröhlichkeit nichts mit der Arbeit, sondern mit Nicholas zu tun hatte. Also sprach ich nur über belanglose Dinge. Natürlich brachte sie die Sprache recht schnell wieder auf Boston und darauf, wie wenig ihr der Gedanke gefiel, dass ich nach meiner Rückkehr aus Cedars Creek gerade mal ein paar Tage in Minneapolis sein würde, bevor ich endgültig abreisen wollte. Damit war die gute Stimmung zwischen uns mal wieder zum Teufel und das Gespräch recht schnell, beendet.
Mit Sue war es noch schlimmer. Immer wenn ich mir vornahm, sie anzurufen - zweimal hatte ich das Telefon schon in der Hand -, ließ ich es dann doch bleiben. Ich wusste einfach nicht, was ich ihr erzählen sollte. Sie belügen oder ihr Dinge verschweigen, die mir wichtig waren, nur weil ich nicht wusste, wie ich ihr die Gegenwart eines Geistes erklären sollte, wollte ich nicht. Also zog ich es vor, lieber gar nicht mit ihr zu sprechen.
Ich lernte zu unterscheiden, wann die Kälte nur Nicholas' Nähe war und wann eine Berührung. Wenn er sehr nah war, umgab mich die Kälte von allen Seiten wie ein Mantel. Wenn er mich jedoch berührte, konzentrierte sich das auf eine einzige Stelle. Wie ein Eiswürfel auf der Haut, prickelnd und fast schon ein wenig lebendig. Zu meinem Erstaunen gewöhnte ich mich immer mehr daran und fror längst nicht mehr. Alles, was ich brauchte, war ein Pulli anstelle eines T-Shirts.
An den Abenden saßen wir auf der Veranda vor dem Haus. Ich trank Eistee und genoss die Wärme des vergangenen Tages. Nicholas erzählte von seiner Kindheit und davon, wie es war, in einem riesigen Haus aufzuwachsen. Er sprach viel über seine Eltern, aber noch mehr über seinen Bruder, und mir wurde rasch klar, wie sehr er ihn geliebt hatte - immer noch liebte. Als der Ältere hatte Nicholas sich immer ein wenig für Adrian verantwortlich gefühlt und versucht, ihn zu beschützen. Dabei beschrieb er Adrian als einen warmherzigen und offenen Menschen, dem immer sofort alle Herzen
Weitere Kostenlose Bücher