01 - Der Geist, der mich liebte
Kälte? Wärme? Kannst du überhaupt fühlen? Wie steht es mit Emotionen? Was kannst du alles tun? Hast du besondere Fähigkeiten? So etwas wie Superkräfte? Vielleicht einen Röntgenblick ?
Sie bohrte immer weiter, bis Nicholas ihr lachend ins Wort fiel und ihr sagte, er sei ein Geist, kein Superheld. Danach kriegte Tess sich ein wenig ein. Sie schaffte es sogar, sich zu uns zu setzen.
Ich holte uns etwas zu trinken, und als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, war sie dazu übergegangen, Nicholas all jene Fragen zu stellen, mit denen ich ihn bereits gelöchert hatte. Sie machte sich sogar Notizen. Wieder und wieder
ließ sie ihn von seinem Tod, den Umständen, die dazu geführt hatten, und dem, was danach passiert war, berichten. So lange, bis ich es nicht mehr ertragen konnte, den Schmerz in seiner Stimme zu hören, wenn er davon erzählte. Ich ging in die Küche und kümmerte mich um den Abwasch, den ich während der vergangenen Tage ohnehin viel zu sehr vernachlässigt hatte. Nachdem ich alles gründlich aufgeräumt hatte, setzte ich Wasser auf und kochte Tee. Statt ins Wohnzimmer zurückzukehren, hockte ich mich mit meiner Tasse an den Küchentisch und starrte vor mich hin.
»Sam?« Plötzlich stand Nicholas vor mir. »Ist alles in Ordnung?«
»Ich bin nur müde.«
Er hob die Hand und strich über meine Wange. Kühl. Nicht fassbar. »Du schläfst zu wenig.«
»Wundert dich das?«
Er ging vor mir in die Hocke und sah mir in die Augen. »Ich bin wirklich froh, dass ich dich habe«, sagte er leise. »Ohne dich ...«
»... würdest du immer noch nach einem Weg suchen, dich jemandem bemerkbar zu machen.«
»Das meine ich nicht.«
Was er meinte, erfuhr ich nicht, denn in diesem Moment kam Tess in die Küche und wedelte mit ihrem Notizblock. »Ich werde das alles auswerten«, sagte sie und klang dabei mehr wie eine Anwältin als eine angehende Parapsychologin. »Schau nicht so, Sam. Das wollte ich einfach schon immer mal sagen«, grinste sie und ihre Wangen glühten vor
Begeisterung. Für sie musste die Begegnung mit Nicholas das Größte sein. »Ich werde mich einfach hinsetzen und über das nachgrübeln, was Nicholas mir erzählt hat. Und ich werde ein wenig in meinen Büchern stöbern. Vielleicht finde ich etwas, was uns weiterhilft. Sobald ich etwas mehr weiß - oder wenn mir weitere Fragen einfallen -, melde ich mich.«
Ich blinzelte. »Du willst schon gehen?«
»Schon?« Tess machte eine Kaugummiblase und ließ sie platzen. »Es ist fast vier Uhr morgens. Im Gegensatz zu dir muss ich morgen arbeiten.«
Ich war erstaunt, wie schnell die Zeit vergangen war. »Es ist Samstag. Willst du etwa heute die Bibliothek aufsperren, um deine Fehlstunden nachzuholen?«, neckte ich sie.
Tess schüttelte lachend den Kopf. »Bestimmt nicht. Aber in die Bibliothek will ich trotzdem. Ich werde das Wochenende nutzen, um mir das Archiv vorzunehmen. Vielleicht finde ich ja was, bevor Mr Owens am Montag wieder zur Arbeit kommt. Macht's gut, ihr beiden!«, rief sie und winkte zum Abschied mit ihrem Block.
Sie verschwand aus der Küche, kurz darauf hörte ich, wie die Haustür hinter ihr zufiel, und wenig später heulte der Motor des Hondas auf. Dann war es wieder still.
»Das ist vielleicht ein verrücktes Huhn«, grinste Nicholas. »Aber ich mag sie.«
»Tess ist großartig. Ohne sie könnte ich dich nicht sehen. Wusstest du, dass sie mich zu dieser Beschwörung zwingen musste?«
»Dein Widerwille ist mir nicht entgangen. Ich kann mich auch gut daran erinnern, was du zu mir gesagt hast, als du mit den Gläsern ins Wohnzimmer gegangen bist. Du kannst mir nachlaufen, so viel du willst, hast du gesagt. Und dann: Ich werde dich schon noch los.«
Ich sah ihn erstaunt an. »Merkst du dir alles, was ich von mir gebe, wortwörtlich?«
Sein Lachen erfüllte die Luft. »Vieles. Du klangst ziemlich entschlossen. Zum Glück hat Tess ihren eigenen Kopf und hat sich von dir nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen. Allein dafür bin ich ihr schon dankbar.« Wieder spürte ich den Hauch seiner Hand. Dieses Mal auf meinen Händen, als wollte er sie umfassen und festhalten. Da war er wieder, dieser ernste, fast schon fürsorgliche Blick. »Du solltest wirklich ein wenig schlafen.«
Ich protestierte. Nachdem ich den ganzen Tag über von mir erzählt hatte, war mir durch Tess' Verhör bis jetzt jede Möglichkeit genommen worden, Nicholas weitere Fragen über sein Leben zu stellen. Und jetzt sollte ich auf die wenige Zeit
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