01 - Der Geist, der mich liebte
zugeflogen waren, während Nicholas sich lieber im Hintergrund gehalten hatte.
Die beiden waren nicht nur Brüder, sondern auch beste Freunde gewesen. Etwas, was ich mir sehr schön vorstellte. Ich selbst hatte mir immer Geschwister gewünscht und vielleicht hätte auch ich eine kleine Schwester oder einen Bruder gehabt, wenn Dad nicht so früh gestorben wäre.
Aus meinem Freundeskreis kannte ich einige Fälle, bei denen es immer wieder zu heftigen Eifersüchteleien kam, weil einem Geschwisterteil mehr Aufmerksamkeit zuteilwurde als dem anderen. Nicholas schien sich nicht daran gestört zu haben. Er erweckte den Eindruck, als wäre er mit der Rolle des zurückhaltenden, ernsten Bruders zufrieden gewesen. Abgesehen davon fiel es mir schwer zu glauben dass Adrian mehr Beachtung gefunden haben sollte als er.
Wenn ich ihm zu seinen Lebzeiten begegnet wäre ... Meine Aufmerksamkeit wäre ihm sicher gewesen. Es war seine ganze Art. Diese Ruhe und Ausgeglichenheit, die ihn ständig umgab. Trotzdem konnte er auch energisch sein - das bewies er immer dann, wenn er von mir verlangte, dass ich mich ausruhen sollte. Ich mochte seinen Humor und die Wärme, mit der er mich behandelte. Ganz besonders aber mochte ich seine unglaublich blauen Augen und diesen Blick, mit dem er es regelmäßig schaffte, meine Knie in Pudding zu verwandeln.
Ich merkte schnell, dass die Blicke zwischen uns intensiver wurden. Ebenso seine Versuche, mich zu berühren, und mein Drang, ständig in seiner Nähe zu sein. Nachdem wir stundenlang miteinander gesprochen hatten - ich bei Tag, er in der Nacht -, hatte ich das Gefühl, ihn seit Langem zu kennen. Zwischen uns war eine Vertrautheit gewachsen, die mir mit jedem Tag wichtiger wurde. Schon wenn ich ihn ansah, schlug mein Herz schneller. Das erschreckte mich. Ich war bereit, Frösche zu küssen in der Hoffnung, eines Tages meinen Prinzen zu finden. Lebende Frösche, keine toten!
Eine Woche nach meiner Ankunft in Cedars Creek war die Renovierung nicht gerade weit fortgeschritten. Die Tapeten im Arbeitszimmer waren ab, Tante Fionas Kleider in Kartons verpackt und das Schlafzimmer so weit wie möglich ausgeräumt. Ich hatte die Möbel auseinandergeschraubt und die Einzelteile in der Mitte des Raumes gestapelt, bis ich wusste, was ich damit tun sollte. Während ich darüber nachdachte, machte ich mich mit einem Spachtel bewaffnet über die geblümten Tapeten her.
Wenn ich mir klar machte, dass der Flur und mein eigenes Schlafzimmer noch vor mir lagen ebenso wie das Wohnzimmer und die übrigen unteren Räume, dann wurde mir angst und bange. Mir blieben immer noch einige Wochen, ehe ich in Boston sein musste. Die Renovierung würde ich schon noch schaffen. Allerdings konnte es sein, dass ich den Verkauf des Hauses aus Zeitmangel doch einem Makler überlassen musste.
Seit dem Abend, an dem Tess Nicholas ihrem peinlich genauen Verhör unterzogen hatte, hatte ich nur wenig von ihr gehört. Sie hatte mich ein paarmal angerufen, um
mich über ihre Fortschritte zu informieren. Tatsache war, dass es keine Fortschritte gab. Dank Nicholas hatte Tess jetzt einen ähnlich ausgefüllten Tagesablauf wie ich. Tagsüber arbeitete sie in der Bibliothek und abends und in der Nacht ackerte sie sich durch ihre Bücher und das Internet, auf der Suche nach etwas, was uns helfen konnte. Sie studierte Fälle von Geistererscheinungen und anderen unheimlichen Phänomenen und suchte nach Parallelen. Bisher ohne Erfolg. Die meisten Geister, von denen ihre Bücher berichteten, waren ermordet worden und suchten nach Gerechtigkeit. Keine einzige der Geschichten, die sie bisher entdeckt hatte, passte zu Nicholas' Leben - oder zu seinem Tod.
So entschlossen ich anfangs auch gewesen sein mochte, Nicholas wieder loszuwerden, so froh war ich jetzt jedes Mal, wenn Tess mir sagte, es gebe nichts Neues. Mir wurde schnell klar, dass ich ihn vermissen würde, wenn er nicht mehr hier wäre. Da half auch der Gedanke, dass er seit fünfzig Jahren tot war und hier längst nichts mehr zu suchen hatte, nicht weiter.
Nachdem ich den ganzen Nachmittag wie ein Pferd geackert hatte, ging ich hungrig zum Kühlschrank, nur um festzustellen, dass er so gut wie leer war. Es gab nicht mal mehr ein Stück Brot im Haus. Höchste Zeit einzukaufen.
Ich kritzelte hastig eine Liste zusammen mit all den Dingen, die mir ausgegangen waren, verabschiedete mich von Nicholas und fuhr zum Supermarkt.
Als ich den Laden - bepackt mit einer Unmenge von
Tüten -
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