01 - Der Geist, der mich liebte
wieder verließ, wurde es bereits dunkel. Ich summte fröhlich vor mich hin und freute mich darauf, Nicholas zu sehen, wenn ich nach Hause kam. Rasch lud ich alles ins Auto und fuhr zurück in die Maple Street.
Zu Hause angekommen, stellte ich den Wagen vor der Garage ab - das Tor hatte ich in all den Tagen immer noch nicht repariert - schnappte mir die ersten Tüten und ging zum Haus.
Hinter mir durchdrang ein Knirschen die Dunkelheit. Es klang wie Schritte, vom Rasen gedämpft. Ich fuhr herum. Keine zwei Meter von mir entfernt stand ein Mann. Er war groß und breit gebaut. Sein Gesicht lag im Schatten der Ahornbäume verborgen, sodass ich es nicht erkennen konnte. Was ich jedoch überdeutlich sah, war der Lauf der Pistole, der sich auf mich richtete. Ich ließ die Tüten fallen. Brot, Wurst und Joghurt rollten über den Rasen.
»Sperr die Tür auf!«, bellte er. Als ich mich nicht sofort rührte, kam er näher und wedelte mit der Pistole vor mir herum. »Na los! Mach schon! Oder soll ich dich erst erschießen und mir dann deinen Schlüssel nehmen?«
Niemand würde es hören, wenn er mich auf offener Straße erschoss. Kein Nachbar, keine Polizei. Niemand. Nur Nicholas. Aber der konnte nichts tun, um mir zu helfen. Er war ein Geist.
Ganz langsam drehte ich mich um und ging zum Haus. Der Landstreicher! Das musste der Landstreicher sein, vor dem mich Mr Perkins gewarnt hatte. Ich hatte damit gerechnet, dass er womöglich umherziehen und Leute anbetteln oder bestehlen würde. Nicht damit, dass er eines
Abends mit einer Pistole vor mir stehen könnte. Ich hatte ein Pfefferspray, doch das war irgendwo im Rucksack. Unerreichbar für mich.
»Hören Sie«, begann ich, als ich die Stufen zur Veranda hochstieg, »ich werde Ihnen mein Geld geben und keine Polizei rufen, in Ordnung? Sie haben keinen Grund, mich mit dieser Waffe ...«
»Halt's Maul!«, herrschte er mich so heftig an, dass ich erschrocken zusammenzuckte. »Und jetzt mach endlich die verdammte Tür auf!«
Obwohl wir hier vollkommen allein waren, sah er sich immer wieder nach allen Seiten um. Jetzt, da er hinter mir auf die Veranda trat, konnte ich sein Gesicht im Schein der Außenbeleuchtung erkennen. Bleich und aufgedunsen, die Augen glasig. Es war der Blick eines Drogenabhängigen auf der Suche nach dem nächsten Kick. Diese Erkenntnis machte mir mehr Angst als die Pistole in seiner Hand. Bei Räubern und Einbrechern konnte man versuchen, sie so weit zu beruhigen, dass sie nichts weiter taten, als das Geld zu nehmen und wieder zu verschwinden. Drogenabhängige jedoch waren unberechenbar. Besonders wenn sie auf Entzug waren.
Als er vorhin hinter mir aus der Dunkelheit getreten war, war ich erschrocken. Trotzdem war es mir gelungen, meine Angst einigermaßen zu kontrollieren. Jetzt jedoch, da ich begriff, dass ich es mit jemandem zu tun hatte, der mich vielleicht einfach nur erschießen würde, weil er gerade einen miesen Trip hatte, gelang es mir kaum noch, die aufkommende Panik zu unterdrücken. Gleichzeitig entbehrte die
Situation nicht einer gewissen Ironie. Ich hatte einen Geist im Haus, der mir nichts tun wollte. Stattdessen lief ich nun Gefahr, bei einem Raubüberfall zu sterben.
Ich war ein Großstadtmensch und ich kannte die Gefahren dort, war sogar einmal auf offener Straße ausgeraubt worden. Doch nie zuvor hatte jemand eine Pistole auf mich gerichtet.
Mit zitternden Fingern griff ich in meine Jeanstasche.
»Was machst du da?« Er stand jetzt so dicht hinter mir, dass ich seinen Atem in meinem Nacken spüren konnte. Und den kalten Lauf seiner Waffe, den er mir nun gegen die Schläfe drückte. Ein metallisches Klicken dröhnte in meinem Ohr, als er die Waffe entsicherte.
»Bitte«, presste ich hervor. »Ich wollte nur den Schlüssel aus meiner Tasche ...« Ich konnte nicht weitersprechen. Die Angst schnürte mir die Kehle zu. Ich biss mir auf die Lippe, um das erschrockene Wimmern zurückzuhalten, das in mir aufstieg. Mein Puls raste, das Blut rauschte mir in den Ohren und mein Herz hämmerte donnernd gegen meinen Brustkorb. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen und verdichteten sich immer mehr, dass ich fürchtete, einfach ohnmächtig zu werden. Wenn ich jetzt umkippte, würde er mich garantiert erschießen. Einfach aus Wut. Ich zwang mich, ein paarmal tief durchzuatmen, bis ich nicht mehr das Gefühl hatte, gleich umzufallen. Inzwischen war ich in Schweiß gebadet.
»Sperr auf!«, brüllte er in mein Ohr, und als ich nicht sofort
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