01 - Der Geist, der mich liebte
ihn einfach als Teil deines Erbes.«
»Tess, er ist ein eigenständiges Wesen! Ein Mensch! Er gehört niemandem außer sich selbst! Und schon gar nicht gehört er zu meinem Erbe. Er ist ja nicht einmal an das Haus gefesselt, sondern kam erst mit meiner Ankunft dorthin. Freiwillig.«
Sie sah mich erstaunt an. »Heiliger Strohsack, Sam! Ich wollte dir doch nicht auf die Füße steigen. So wie du für deinen ... für ihn eintrittst, könnte man glatt meinen
»Was könnte man meinen?«
Tess grinste. »Magst du ihn?«
»Natürlich mag ich ihn! Er ist ein netter ...« Ich brach ab, als ich begriff, welche Art von Mögen Tess meinte. »Nein! So ist es nicht!«
Tess entgegnete nichts, doch ihr Blick sprach Bände. »Lass uns gehen.«
Wir verließen die Stahlkammer. Tess sperrte sorgfältig
ab und verstaute den Schlüssel wieder in ihrem Geheimversteck. Während wir die Stufen hochstiegen, dachte ich über ihre Worte nach. Wie kam sie nur auf den Gedanken, Nicholas könne für mich mehr als nur eine arme Seele in Not sein ? Sicher, er war attraktiv und nett, warmherzig und zugleich voller Entschlossenheit. Moment! Was dachte ich da überhaupt? Ich schob alle Gedanken, in denen ich in Nicholas etwas anderes als einen ruhelosen Geist sah, weit von mir.
Um mich abzulenken, fragte ich: »Wann kommt dieser Mr Owens zurück?«
»Montag.«
»Das ist ja schon in drei Tagen!«, entfuhr es mir. »Wie willst du die Bücher unter seinen Augen klauen?«
»Ausleihen, Sam. Nicht klauen.« Grinsend wedelte sie mit dem Schlüsselbund vor meiner Nase. »Du weißt doch, dass ich sehr viel von flexiblen Öffnungszeiten halte. Wenn wir ein spezielles Buch brauchen, holen wir es uns eben in der Nacht.«
Also doch klauen.
Ehe Tess ihre Tasche nahm, warf sie noch einen Blick in den Spiegel und richtete die gegelten blonden Stacheln. Dann packte sie ihren Kram zusammen und bat mich, sie zu ihrem Haus zu fahren, damit sie ihren Wagen holen konnte. Ich bot Tess an, sie im Käfer mitzunehmen und später auch wieder zurückzufahren, doch sie winkte ab und meinte, ich solle die Zeit lieber nutzen, um ein paar Stunden zu schlafen. Müde genug sähe ich jedenfalls aus.
Ich gab mich geschlagen und wartete, bis sie ihren Wagen, einen alten weinroten Honda, aus der Garage geholt hatte. Als wir in der Maple Street ankamen, war es bereits dunkel.
Sobald Tess ihren Wagen neben meinem abgestellt hatte, gingen wir zum Haus.
»Nicholas? Ich bin zurück! Tess ist auch hier!«, rief ich als ich die Tür öffnete. »Nicholas?«
»Ich bin hier.«
Er trat aus dem Wohnzimmer in den Gang. Einmal mehr war ich erstaunt, wie real er wirkte. Und doch würde meine Hand durch ihn hindurchgehen, wenn ich versuchte, ihn zu berühren.
Neben mir knallte eine Kaugummiblase. Tess war so fasziniert, dass sie keinen Ton sagte. Sie stand einfach nur da und starrte ihn an. Nie zuvor hatte ich sie so schweigsam erlebt.
Nicholas grinste mich an. »Geht es ihr gut?«
»Wow!«, stieß Tess endlich hervor. Ich war mir nicht sicher, ob es die Tatsache war, einem Geist gegenüberzustehen, die sie so staunen ließ, oder ob es an Nicholas' Aussehen lag.
Tess' Schweigsamkeit endete ziemlich schnell. »Ich will alles über dich wissen!«, sagte sie und ging auf ihn zu. Ich bin sicher, sie hätte ihn ins Wohnzimmer geschoben, wenn sie in der Lage gewesen wäre, ihn zu berühren. Stattdessen trat Nicholas einen Schritt zur Seite und folgte ihr dann — nicht ohne mir vorher noch ein amüsiertes Grinsen zuzuwerfen.
Im Wohnzimmer setzten wir uns - mit Ausnahme von
Tess. Sie schaffte es nicht, ruhig zu bleiben. Statt sich zu uns zu setzen, lief sie vor dem Kamin auf und ab, wobei sie es fertigbrachte, Nicholas nicht aus den Augen zu lassen. Selbst dann nicht, wenn sie ihm eigentlich gerade den Rücken zuwandte.
Sie fing sofort damit an, ihn auszuquetschen. Wie Donnerschläge prasselten die Fragen auf ihn herab, immer wieder begleitet vom Platzen ihrer Kaugummiblasen. Mehr Blasen als gewöhnlich. Das wertete ich als ein deutliches Zeichen von Aufregung. Nicholas antwortete ihr mit stoischer Ruhe. Von Zeit zu Zeit warf er mir belustigte Seitenblicke zu. Für seine Gelassenheit konnte ich ihn nur bewundern. Ich selbst war bald ziemlich genervt. Mir wäre es lieber gewesen, mit ihm allein zu sein und mehr über ihn zu erfahren. Dinge, die ich noch nicht wusste.
Anfangs wollte Tess viel darüber wissen, wie es war, ein Geist zu sein. Fragen wie: Wie fühlt es sich an? Spürst du
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