01 - Der Geist, der mich liebte
gar nicht mehr von hier fort.«
Ich starrte ihn ungläubig an. »Willst du nicht?«
»Nicht mehr.«
Da war er wieder, dieser Blick, der es mir so schwer machte, rational und klar zu denken. Trotzdem versuchte ich mein letztes bisschen Vernunft zusammenzukratzen. »Aber sehnst du dich nicht danach, endlich Ruhe zu finden? Wünschst du dir nicht...«
»Alles, was ich mir wünsche, ist, dich berühren zu können. Wie vorhin.«
Mein Herz begann zu rasen. Gleichzeit war da diese Stimme in meinem Verstand, die lautstark rief, dass es krank war, sich zu einem Geist - einem Toten! - hingezogen zu fühlen. Und tatsächlich, das konnte nicht normal sein! Ich sah zu Boden. Das Herzklopfen musste aufhören! Um das zu erreichen, versuchte ich mir vorzustellen, wie Nicholas' Körper unter der Erde verweste. Maden. Matsch. Skelett. Staub. Ich gab mir alle Mühe, mir die ekelhaftesten Bilder auszumalen, in der Hoffnung, es würde mich abschrecken. Doch als ich schließlich den Kopf wieder hob, war alles, was ich sah, der durchdringende Blick seiner unglaublichen Augen. Das wischte sofort jeden Gedanken an einen verwesenden Leichnam fort.
Plötzlich fiel es mir schwer, mir vorzustellen, dass das, was ich vor mir sah, nicht sein Körper war, sondern lediglich eine Art Projektion. Tess würde vermutlich die richtigen Worte kennen, um Nicholas' Zustand zu beschreiben. Fachbegriffe waren mir egal. Tatsache war, dass mir Nicholas nicht wie ein Geist vorkam.
Um mich abzulenken, fragte ich: »Warst du verheiratet?« Vielleicht nicht die brillanteste aller Fragen, die ich hätte stellen können - schon gar nicht die unverfänglichste. Aber jetzt war es zu spät. Abgesehen davon interessierte mich die Antwort.
Obwohl sein Leben über fünfzig Jahre zurücklag, war ich erleichtert, als er den Kopf schüttelte. »Auch nicht verlobt«, sagte er, »und ich habe auch keine Frau geliebt. Ich musste erst sterben, damit das geschehen konnte.«
Ich wollte etwas erwidern, doch seine Worte hatten mir die Sprache verschlagen. Mit einer Frage, die mich nur von meinen eigenen Gefühlen ablenken sollte, hatte ich mich nur noch tiefer in Schwierigkeiten gebracht. Ich war in einen Geist verliebt, der obendrein noch meine Gefühle erwiderte. Aber ich konnte ihn nicht berühren! Gab es etwas, was noch frustrierender sein konnte ?
Ich musste mich dringend ablenken! »Wenn du ein Zombie wärst, könnte ich dich wenigstens berühren.« Ich schrie innerlich auf. Was sollte das für eine Ablenkung sein?!
»Wenn ich ein Zombie wäre«, gab Nicholas zurück, »würde ich dich auffressen.«
Ich fuhr auf. »Halt! Du hast doch gesagt, es gibt keine Zombies! Woher willst du dann wissen, dass sie Menschen auffressen? Bist du sicher, dass es ...«
Er begann zu lachen. »Sam«, sagte er grinsend, als er sich wieder gefangen hatte. »Ich stamme aus den Fünfzigern, nicht aus dem Mittelalter. Selbst zu meiner Zeit gab es schon Zombiefilme. Abgesehen davon sieht sich Reverend Jones ständig solche Filme an, wenn er betrunken ist. Ich besitze also durchaus eine moderne Bildung, wenn du so willst.«
»Oh«, sagte ich dümmlich.
In dieser Nacht schlief ich. Nicht dass ich das gewollt oder Nicholas mich dazu gezwungen hätte. Aber nachdem wir schließlich ins Haus gegangen waren und ich auf der Couch saß, schlief ich einfach ein. Vielleicht war es der Schrecken, der mir nach dem Überfall noch immer in den Knochen saß, der mir buchstäblich die Füße wegzog. Vielleicht war ich auch einfach nur müde.
Ich träumte eine Menge wirres Zeug. Vieles davon hatte mit dem Kuss zu tun. Und natürlich mit Nicholas. Ein Landstreicher und eine Pistole kamen nicht vor. Stattdessen sah ich mich bei meiner eigenen Hochzeit. Allein mit einem Brautstrauß vor einem Grab stehend. Nicholas Crowley stand auf dem Grabstein vor mir. Ein betrunkener Pfarrer, dem der Hals einer Whiskeyflasche aus der Tasche seines Jacketts ragte, vollzog die Trauung. Neben ihm stand ein Bettlaken und klirrte unter schaurigem Heulen mit den Ketten. Wenigstens kam kein Zombie darin vor.
Nüchtern betrachtet wäre dieser Traum sicher unterhaltsam gewesen. Angesichts meiner Situation fand ich ihn weniger komisch. Ich war jung! Ich sollte ausgehen und
reisen. Die Welt sehen, etwas erleben. Erfahrungen sammeln. Stattdessen verliebte ich mich in einen Geist, der an einen sehr engen Umkreis gefesselt war! Was war mit Boston? Meinen Plänen für die Zukunft? Ich konnte doch nicht alles über den Haufen werfen
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