01 - Der Geist, der mich liebte
geöffnet! Doch hinter dem Empfangstresen saß nicht Tess, lesend und Kaugummi kauend, sondern ein fremder Mann mit strähnigem grauem Haar.
Als ich eintrat, hob er den Kopf. Seine Brille war nach vorne gerutscht, sodass er mich nun über den Rand hinweg anblickte.
»Kann ich Ihnen helfen, Miss?«
»Sie sucht mich, Mr Owens.« Plötzlich sprang Tess zwischen den Regalen vor. Ihre blonden Stacheln ragten wie ein Hahnenkamm empor. Ein Auftritt, der den Bibliothekar dazu veranlasste, die ohnehin schon faltige Stirn noch mehr in Runzeln zu legen.
»Sie haben aber jetzt keine Mittagspause, Ms Adams«, tadelte er.
»Ist ja auch geschäftlich.« Bevor ich noch etwas erwidern konnte, zog Tess mich zwischen die Regale. »Kommen Sie, Ms Mitchell. Die Bücher, die Sie suchen, sind sicher dort hinten. Ich zeige es Ihnen.«
Sie führte mich zu einem Lesetisch am anderen Ende der Bibliothek, durch unzählige Regalreihen vom Empfangstresen abgeschottet, und ließ sich in einen Stuhl fallen.
»Mein Leben ist die Hölle!«, stöhnte sie und streckte die Füße von sich. »Was für ein Sklaventreiber!« Dann fiel ihr Blick auf das Pflaster an meiner Schläfe. »Hattest du einen Unfall?«
»Überfall«, korrigierte ich.
»Was?« Tess setzte sich senkrecht auf. »Ist dir was passiert?« Plötzlich stand sie vor mir, griff nach meinen Armen und schob mich zu einem Stuhl. »Setz dich erst mal. Du musst mir alles haarklein erzählen. Geht es dir gut? Hast du Schmerzen?«
»Mir fehlt nichts«, erklärte ich, sobald ich saß. Ich hätte mir denken können, dass Tess nach dem Pflaster fragen würde. Aber ich war nicht hier, um über den Überfall zu sprechen. Nur wusste ich nicht, wie ich mein Problem auf den Tisch bringen sollte. »Hast du schon etwas gefunden, was uns weiterhelfen kann?«
»Nein, noch nicht.« Ihre Ohrringe klirrten leise, als sie den Kopf schüttelte. »Alles, was ich weiß, ist, dass es irgendetwas gibt, was ihn hier gefangen hält. Eine ungelöste Aufgabe. Na ja, irgendwas in der Art. Wenn die Aufgabe gelöst ist, findet er seinen Frieden. Wir müssen nur herausfinden, was genau es ist, was ihn hier hält.«
Kurz gesagt: Wir waren genauso schlau wie vorher.
Tess zog sich einen Stuhl heran. »Jetzt hör auf, mir auszuweichen! Was ist passiert? Raus mit der Sprache!«
Sie würde ohnehin keine Ruhe geben, ehe sie die Geschichte nicht kannte. Also erzählte ich ihr von dem Überfall und davon, wie Nicholas mich gerettet hatte. Von dem, was danach zwischen Nicholas und mir geschehen war, erzählte ich noch nichts. »Sie haben den Kerl letzte Nacht noch verhaftet«, schloss ich meinen ziemlich kurz gefassten Bericht.
Es war das erste Mal, dass ich Tess sprachlos erlebte. Eine Weile saß sie nur da, kaute auf ihrem Kaugummi und starrte mich an. Sie vergaß sogar, Kaugummiblasen zu machen. »Und du bist sicher, dass es dir gut geht?«, fragte sie endlich.
Ich nickte. Sagen konnte ich nichts, denn in Wahrheit ging es mir nicht gut. Was aber nichts mit dem Überfall zu tun hatte. Tess sah mich so lange an, dass ich unruhig wurde. »Was? Warum schaust du so?«
»Du siehst ganz schön erledigt aus, Sam. Kann es sein, dass du dir ein wenig zu viel zumutest?«
»Da ist die Arbeit im Haus und in der Nacht ist Nicholas bei mir ... Ich weiß gar nicht, wann ich schlafen soll.« Das klang selbst in meinen Ohren lahm.
»Nur weil Nicholas da ist, bedeutet das doch nicht, dass du nicht schlafen kannst!«
Das war mir auch klar. Ich wollte nicht schlafen. Keine Sekunde in seiner Nähe wollte ich versäumen. Wenn er da war, wenn ich ihn sehen konnte, dann wollte ich jeden Augenblick auskosten. Ich wollte seine blauen Augen sehen, das ernste Gesicht, die Grübchen, wenn er sich über etwas amüsierte. Aber vor allem wollte ich eines: ihn berühren!
»Tess, er hat mich geküsst!«, platzte ich heraus.
»Ist er zurück? Wann hast du ihn getroffen?«
Ich sah sie verwirrt an. Dann wurde mir klar, wen sie meinte. »Nicht Adrian. Nicholas. Nicholas hat mich geküsst!«
»Ach du Scheiße!« Da war sie endlich, die Kaugummiblase des Erstaunens, groß wie ein Baseball und ohne das geringste Geräusch beim Zerplatzen. Ihr ging einfach die Luft aus. Eine Weile sah Tess mich nur an. Sie wirkte besorgt. »Du weißt, dass er nicht mehr hier sein wird, wenn
wir einen Weg gefunden haben, ihm seinen Frieden zu geben. Du weißt, dass ...«
»... dass es keine Zukunft gibt?« All die Stunden, in denen ich mir gewünscht hatte, ihn zu
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