01 - Der Geist, der mich liebte
berühren, seine Nähe zu spüren, und dann der Kuss letzte Nacht. Seine Arme, sein Körper, seine Lippen. Ich hatte ihn tatsächlich berührt. Diese Wärme. »Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich verliebt bin«, sagte ich in die plötzliche Stille hinein. »Und dann schaffe ich es nicht einmal, mir einen lebenden Mann zu suchen!«
Tess sah mich nun aufrichtig bestürzt an. Als wäre ich eine Laborratte mit Ausschlag. »Du warst noch nie verliebt? Wirklich? Keine Schmetterlinge? Kein Kribbeln im Bauch? Nichts?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Noch nie.« »Und was ist mit Adrian?«
Wenn ich während der letzten Tage an Adrian gedacht hatte, dann nur in Zusammenhang mit Nicholas' Verwandtschaft. Der Adrian Crowley, der mich beschäftigt hatte, war Nicholas' Bruder gewesen, nicht dessen Enkel. »Ich mag Adrian. Er ist toll. Aber das Gefühl, das Nicholas in mir auslöst, war von Anfang an ein anderes.« Bei Adrian hatte ich mich gefragt, ob er sich womöglich als mein Traumprinz entpuppen könnte. Bei Nicholas hatte ich mir diese Frage nie gestellt. Er war es einfach. Das war erschreckend. Wie verkorkst musste man sein, wenn einem die lebenden Männer nicht genügten ?
»Sam, du musst ihn dir aus dem Kopf schlagen.« »Ms Adams!«, dröhnte Mr Owens' raue Stimme vom
Empfangstresen zwischen den Regalen hindurch. »Könnten Sie sich womöglich überzeugen lassen weiterzuarbeiten?«
»Ich arbeite doch, Mr Owens!«, rief Tess zurück und zwinkerte mir zu.
»Soll ich kommen und nachsehen? Ich brauche Sie hier vorne. Sofort!«
Tess verdrehte die Augen und erhob sich gemächlich. »Bin gleich da!«
Der Umgangston der beiden widerlegte alles, was ich bisher über die Ruhe in Lesesälen gehört und auch am eigenen Leib erfahren hatte.
»Ich muss weitermachen, sonst brummt er mir eine Extraschicht auf, um seine alten Schinken im ersten Stock zu katalogisieren.« Ihr Blick zuckte kurz die Regalreihen entlang und kehrte dann zu mir zurück. »Kommst du klar?«
»Sicher.« Ich stand auf und folgte ihr durch den Gang zur Tür.
»Komm heute Abend zu mir, dann können wir über alles reden«, raunte Tess, als sie mir die Tür öffnete. Laut fügte sie hinzu: »Tut mir leid, Ms Mitchell, dass wir nicht haben, wonach Sie suchen.« Dann schob sie mich zur Tür hinaus.
Ein wenig verdattert stand ich plötzlich wieder auf dem Gehsteig und blinzelte gegen das helle Sonnenlicht an. Plötzlich musste ich grinsen. Tess mochte zwar ein wenig schräg sein, aber sie war zweifelsohne eine echte Freundin.
Während ich ziellos die Straße entlangging, dachte ich über ihre Worte nach. Ich sollte mir Nicholas aus dem Kopf schlagen. Damit hatte sie ganz bestimmt Recht. Die Frage
war nur, wie ich das anstellen sollte. Wie konnte ich ihn vergessen, wenn er Tag und Nacht um mich war ?
Die Antwort auf meine Frage begegnete mir ein paar Meter weiter die Straße entlang in Form von Adrian, der gerade mit einem Becher Kaffee in der Hand das Diner verließ. Als er mich entdeckte, überzog sofort ein strahlendes Lächeln seine Züge. Nach drei großen Schritten stand er vor mir.
»Sam! Schön Sie zu sehen!« Sein Blick fing sich in meinen Augen. »Sie sehen ein wenig mitgenommen aus. Ist alles in Ordnung?«
Nichts war in Ordnung. Aber er würde dafür sorgen, dass die Dinge wieder ins rechte Lot gerieten. Der Plan, den ich mir in Bruchteilen von Sekunden zurechtlegte, war folgender: Ich würde künftig eine Menge Zeit mit Adrian verbringen. Mindestens so lange, bis Nicholas fort war. Je weniger ich in Nicholas' Nähe wäre, umso leichter würde es mir fallen, ihn zu vergessen. Adrian sollte mir dabei helfen. Was sprach schon gegen ihn? Er war jung, sah gut aus, war charmant und nett und obendrein noch reich. Vor allem aber war er lebendig. 1:0 für Adrian.
»Sam?«, wiederholte er, als ich noch nicht geantwortet hatte. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Doch«, sagte ich hastig. »Ich habe nur ... Heimweh. Mir fehlen meine Familie und natürlich meine Freunde.« »Da fällt mir Regel Nummer zwei für das Überleben in Kleinstädten ein.« »Ach?«
Er nickte ernsthaft, hakte sich bei mir unter und ging mit
mir die Straße hinunter. »Darin geht es um den sogenannten Kleinstadtkoller und wie man ihn vermeiden kann. Ist übrigens eine ganz einfache Lösung.«
»Jetzt bin ich neugierig.«
»Sie brauchen Gesellschaft. Am besten die eines jungen, gut aussehenden Kerls.« Sein Grinsen wurde breiter. »Da aber leider gerade keiner hier
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