01 - Der Geist, der mich liebte
Haut.
Plötzlich wollte ich wissen, was Adrian über seinen verstorbenen Großonkel wusste. »Ich habe gehört, Ihr Großvater hatte einen Bruder.«
Adrian sah auf. »Nicholas«, sagte er tonlos.
Ich erinnerte mich daran, wie liebevoll Nicholas über seinen Bruder gesprochen hatte. »Es muss schlimm für Ihren Großvater gewesen sein, seinen geliebten Bruder so früh zu verlieren.«
»Geliebter Bruder?« Alle Fröhlichkeit war schlagartig aus seinen Zügen gewichen. »Wohl kaum.«
Seine Reaktion verwirrte mich. »Aber ich dachte ...«
»Was dachten Sie?«, erwiderte er beißend. »Dass jemand, der bei dem Versuch, seinen eigenen Bruder zu töten, ums Leben kommt, ein geliebter Mensch sein könnte?«
Mir fiel der Eislöffel aus der Hand. »Er hat was?« Ich war mir nicht sicher, ob ich die Frage tatsächlich ausgesprochen hatte. Zumindest hörte ich meine eigenen Worte kaum, denn in meinem Kopf rauschte es plötzlich heftig. Versucht seinen eigenen Bruder zu töten ... Das konnte unmöglich wahr sein!
Adrian hob meinen Löffel auf, legte ihn auf den Tisch
und winkte dem Kellner, damit er mir einen frischen bringen konnte. Nicht dass ich den Löffel noch gebraucht hätte. Mir war die Lust auf Eis gründlich vergangen. Ich verschränkte die Finger unter dem Tisch, um das plötzliche Zittern meiner Hände zu verbergen. Es kostete mich unendliche Mühe, gelassen zu klingen. »Wollen Sie mir davon erzählen?«
»Sam, das ist nicht unbedingt eine geeignete Geschichte für einen schönen Nachmittag.«
»Nein, bitte! Ich würde es gerne hören!« Ich musste wissen, was er über Nicholas zu sagen hatte. »Das heißt, wenn Sie darüber sprechen wollen.«
»Aber sagen Sie hinterher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt«, seufzte er und lehnte sich im Stuhl zurück. Es dauerte eine Weile, ehe er zu sprechen begann. »Mein Großvater war immer sehr beliebt. Er war der jüngere der beiden Brüder. Adrian senior. Nach ihm bin ich benannt. Grandpa war mir immer näher als jeder andere. Sogar näher als Dad. Das liegt wohl daran, dass wir uns sehr ähnlich sind. Wir denken in vielen Dingen gleich. Abgesehen davon bin ich ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Dad hat das schon bei meiner Geburt bemerkt, deshalb hat er mir Großvaters Namen gegeben. Sie sollten das Porträt sehen, das über dem Kamin hängt. Es zeigt Grandpa, als er etwa in meinem Alter war. Aber es könnte ebenso gut mein Bild sein.«
»Das klingt ja, als wäre Ihr Großvater so etwas wie ein älterer Zwilling.«
»Irgendwie ist er das wohl.« Adrian griff nach seinem Löffel und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her. »Grandpa hat nie verwunden, was sein Bruder ihm angetan
hat. Nicholas war sein ganzes Leben lang eifersüchtig auf ihn. Obwohl er der Ältere der beiden war, stand er immer in Grandpas Schatten. Wo immer Grandpa hinkam, zog er alle Aufmerksamkeit auf sich. Ich glaube, Nicholas konnte damit nicht umgehen. Deshalb hat er beschlossen, seinen Bruder zu töten. Er wollte ihn aus dem Fenster stürzen doch Grandpa hat sich gewehrt. Dabei ist Nicholas zu Tode gekommen. Die Menschen in Cedars Creek denken, es war ein Unfall. Meine ganze Familie denkt das. Ich bin der Einzige, dem Grandpa erzählt hat, was damals wirklich geschehen ist.«
Mir wurde übel. Adrians Gesicht verschwamm vor meinen Augen.
»Sam! Um Gottes willen, Sie sind ja leichenblass!« Kunststück. Der Geist in meinem Haus - Nicholas - war ein Mörder! Plötzlich war Adrian neben mir und legte mir eine Hand auf den Arm. Seine Finger fühlten sich so kühl an, dass ich zusammenzuckte, weil ich zunächst an Nicholas' Berührung denken musste. Es dauerte einen Moment, ehe mir klar wurde, dass seine Finger nur so kalt waren, weil er kurz davor noch seinen Eisbecher gehalten hatte. »Sam?«
Benommen blinzelte ich ihn an. »Entschuldigung. Ich ... mir...»
»Ich hätte Ihnen das nicht erzählen sollen.« »Nein! Ich musste das wissen!«, entfuhr es mir. Adrian runzelte die Stirn. »Sie mussten?« Seine Hand ruhte noch immer auf meinem Arm. »Was meinen Sie damit?«
»Ihr Großonkel... er ... ich ...« Ich konnte nicht anders, ich musste es ihm einfach sagen. Sonst wäre ich vermutlich umgefallen. Aber wie sagte man etwas, das sich für einen Außenstehenden völlig verrückt anhören musste? »Sein Geist geht in meinem Haus um«, würgte ich hervor.
Adrian stand weder auf, um davonzulaufen, noch griff er nach dem Handy, um mir ein Zimmer in der Klapsmühle zu reservieren. Ich
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