01 - Der Geist, der mich liebte
schien. Als hätte Nicholas sich ein Stück zurückgezogen. Nach dem Auftritt, den ich heute Morgen hingelegt hatte, kam ihm mein Verhalten vielleicht nicht einmal allzu sonderbar vor.
Es war inzwischen Nachmittag. Einmal mehr hatte ich es geschafft, den halben Tag mit Nichtstun zu vertrödeln. So ganz stimmte das nicht. Immerhin war ich heute sehr beschäftigt gewesen, wenn schon nicht mit Renovieren, dann zumindest damit, mir von meinen eigenen Gefühlen und ein paar alten Geschichten ordentlich den Boden unter den Füßen wegziehen zu lassen.
Ich begann mich allmählich zu fragen, wie ich es schaffen wollte, die arglose Fassade aufrechtzuerhalten und Nicholas gleichzeitig über Adrian auszufragen. Dafür war Diplomatie gefragt, und die war noch nie meine Stärke gewesen. Ich neige eher dazu, nicht lange um den heißen Brei herumzureden und stattdessen gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Das durfte mir auf keinen Fall passieren! Ich wollte unbedingt verhindern, dass Nicholas erfuhr, was ich wusste - und von wem ich es wusste.
Um mich abzulenken, stürzte ich mich wieder auf meine Tapeten. Wie lange kratzte ich jetzt eigentlich schon an den blöden Wänden herum ? Schwer vorstellbar, dass ich je damit fertig werden würde. Wie auch, wenn ich mich mit Geistern, Verehrern und Geschichten über Mord herumschlagen musste!
Während ich spachtelte, war Nicholas in meiner Nähe, allerdings nie so nah, dass ich seine Berührung - oder das, was bei ihm einer Berührung am nächsten kam - spürte. Gut so! Dass er sich auf Abstand hielt, machte es leichter. Allmählich reifte ein Plan in mir. Wenn ich ihn dieselbe Geschichte immer und immer wieder erzählen ließ, musste ich doch merken, ob er sich irgendwann verhaspelte oder unterschiedliche Versionen erzählte. Falls das geschah, hätte ich den Beweis, dass Adrian Recht hatte. Allerdings hatte Nicholas bereits mehrfach von seinem Tod erzählt. Erst
mir, dann Tess. Dabei war mir nichts Verdächtiges aufgefallen. Seufzend bearbeitete ich die Wand weiter. Dann musste ich mein Augenmerk eben auf Adrian senior lenken und dafür sorgen, dass Nicholas über ihn sprach. Je mehr ich ihn mit seinem Bruder konfrontierte, desto wahrscheinlicher war es, dass irgendwann seine Gefühle mit ihm durchgingen und er sich doch noch verriet. Ich musste dann nur noch so tun, als hätte ich nichts davon bemerkt. Das wäre der schwierigste Teil.
Das alles war Blödsinn! Wütend warf ich den Spachtel in eine Ecke und stampfte die Treppen nach unten, um mir etwas zu trinken zu holen. Nicholas würde sich nicht verraten, weil er nichts getan hatte. Er war kein Mörder! Niemals!
Allein die Vorstellung, er könne versucht haben, seinem eigenen Bruder etwas anzutun, fühlte sich vollkommen falsch an. Das war nicht der Nicholas, den ich kannte! Der Mann - Geist -, den ich kannte, erzählte mit strahlenden Augen von seinem Bruder, nicht mit einem Gesicht, das vor Neid verkniffen war.
Als ich mit einer Wasserflasche nach oben zurückkehrte, war ich endgültig zu der Überzeugung gelangt, dass Nicholas nichts Böses getan hatte. Erleichtert - und ein wenig beschämt darüber, dass ich so an ihm gezweifelt hatte - machte ich mich wieder an die Arbeit.
Eine ganze Weile vor Einbruch der Dunkelheit begann ich mich für den Abend zurechtzumachen. Nachdem ich geduscht hatte, stand ich in meinem Schlafzimmer und blickte ratlos auf die Klamottenauswahl, die ich auf dem Bett ausgebreitet hatte. Schließlich entschied ich mich für
einen langen orange geblümten Sommerrock und eine weiße Bluse. Dazu ein Paar Riemchensandalen. Ich warf Nicholas aus dem Schlafzimmer, um mich ungestört anziehen zu können. Eine Erklärung, wofür ich den ganzen Aufwand betrieb, lieferte ich ihm nicht.
Als ich mich später im Spiegel betrachtete, die Haare ordentlich frisiert und hochgesteckt, leicht geschminkt und schick angezogen, fühlte ich mich einen Moment lang richtig gut. Lächelnd betrachtete ich mein Spiegelbild. Ob ich Nicholas so gefallen würde ?
Das Lächeln verschwand schlagartig. Was machte ich hier? Statt mich auf den Abend mit Adrian zu freuen, dachte ich an Nicholas! Die Angst, die ich nach Adrians Geschichte verspürt hatte, war längst verflogen. Was blieb, war dasselbe Herzklopfen, mit dem ich heute Morgen das Haus verlassen hatte. Ich schlüpfte aus den Sandalen, pfefferte die Schuhe frustriert in eine Ecke und ließ mich aufs Bett fallen. Keine Minute später sprang ich wieder auf und lief barfuß
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