01 - Der Geist, der mich liebte
erntete nicht einmal den mitleidigen Blick, mit dem man Durchgeknallte üblicherweise bedenkt. Er sah mich nur an. Vollkommen ernst. Schweigend.
»Adrian, ich weiß, wie sich das für Sie anhören muss, aber ...«
Jetzt begann er zu lachen. Er lachte so lange und so heftig, dass ihm die Tränen kamen. »Sie hätten mich fast drangekriegt!«, keuchte er, nachdem er sich langsam wieder beruhigte. »Sie sind unglaublich!«
»Was ... aber ...« Ich klappte den Mund zu und zwang mich zu einem - extrem schiefen - Lächeln. Es war besser, nicht weiter zu versuchen, ihm klarzumachen, dass ich nicht scherzte. Er würde mir nicht glauben. »Gut, nicht wahr?«
Bis vor ein paar Minuten hatte ich noch geglaubt, mein größtes Problem bestehe darin, mich in einen Toten verliebt zu haben. Und jetzt...?
Nach Adrians Lachanfall schaffte ich es, noch eine Weile mit ihm zu plaudern. Im Nachhinein hätte ich nicht mehr sagen können, wie ich das überhaupt hatte durchstehen können. Ich wusste nicht einmal mehr genau, worüber wir gesprochen haben, denn die ganze Zeit über hatte mich nur eine Frage beschäftigt: Wie schnell konnte ich verschwinden, ohne dass er mich für komplett übergeschnappt halten würde?
Um von ihm fortzukommen, hatte ich ihm allerdings versprechen müssen, mit ihm zu Abend zu essen. Heute. Bei ihm, im Haus auf dem Hügel. Ohne meine Zusage hätte er mich nicht so einfach entwischen lassen. Er wollte mich später abholen.
Während der ganzen Zeit konnte ich nur daran denken, dass ich dringend mit Tess sprechen musste. Sobald ich mich von Adrian losgeeist hatte, rannte ich zur Bibliothek. Tess war allerdings nicht da. Mr Owens hatte sie in einen der Nachbarorte geschickt, um ein paar Bücher abzuholen.
Ich versuchte sie auf dem Handy anzurufen, doch sie
hatte es abgeschaltet. Auf sie zu warten war sinnlos. Also kehrte ich zu meinem Wagen zurück.
Lange Zeit saß ich einfach nur reglos hinter dem Lenkrad und fragte mich, was ich jetzt tun sollte. Es gab mehrere Optionen. Eine war, einfach den Motor anzulassen und so weit von Cedars Creek fortzufahren wie nur möglich. Doch das brachte ich nicht über mich. In meinem Haus saß der ruhelose Geist eines Mörders. Was, wenn er einen Weg fand, anderen zu schaden?
Nicholas war kein Mörder! Falls überhaupt, hatte er es bestenfalls versucht. Wer sagte mir denn, dass Adrians Geschichte der Wahrheit entsprach? Hatte er nicht selbst gesagt, er sei der Einzige, dem sein Großvater von der Sache erzählt habe ? Vielleicht war Adrian senior ja derjenige, der die Tatsachen verdrehte. Wenn Nicholas wirklich versucht hätte, ihn umzubringen, welchen Grund sollte Adrian senior haben, niemandem — außer seinem Enkel - davon zu erzählen?
Nicholas hatte mir nie etwas getan. Letzte Nacht hatte er mir sogar das Leben gerettet. Während der vergangenen Tage hatte ich ihn als einen fürsorglichen und sanften Menschen kennengelernt, und nur weil mir Adrian die Geschichte eines alten Mannes erzählte, war ich plötzlich bereit, an allem zu zweifeln, was mir mein Herz über Nicholas sagte ?
Es gab nur einen Weg: Ich musste selbst herausfinden, was an der Geschichte dran war. Auf meine Weise. Falls sich herausstellte, dass Nicholas tatsächlich versucht hatte, seinen Bruder zu töten, gab es für mich zumindest keinen
Grund, ihn zu fürchten. Er konnte mir nichts tun, denn dazu müsste er mich erst einmal berühren können.
Sollte sich zeigen, dass an den Anschuldigungen etwas dran war, hatte ich den Grund für seine Ruhelosigkeit gefunden - und das, ohne je ein einziges Buch über Geister gelesen zu haben: Schuldgefühle.
Nachdem es mir endlich gelungen war, mein Entsetzen zu überwinden und meinen Verstand wieder zu benutzen fühlte ich mich um einiges besser. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass Nicholas niemals dazu fähig wäre, jemanden zu ermorden oder es auch nur zu versuchen. Das passte einfach nicht zu ihm. Trotzdem gab es noch eine - wenn auch sehr leise - Stimme in mir, die mich warnte, auf der Hut zu sein. Das wollte ich tun, auch wenn ich nicht glaubte, dass es nötig sein würde.
Mit ausgesprochen gemischten Gefühlen kehrte ich in die Maple Street zurück.
Sobald ich das Haus betrat, spürte ich die Kälte. Einen Moment später begrüßte mich ein kühles Prickeln an meinem Arm. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, mich zusammenzureißen, fuhr ich erschrocken zurück. Sofort spürte ich, wie die Kälte ein wenig von mir wich, weniger undurchdringlich
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