01 - Der Geist, der mich liebte
die Treppen nach unten, um mein Handy zu holen. Ich wählte die Nummer der Auskunft und ließ mich mit der Distillery verbinden. Kurz darauf hatte ich Adrians Sekretärin in der Leitung, die mir sagte, dass Mr Crowley nicht im Haus sei. Da hätte ich auch selbst draufkommen können. Immerhin war er davor schon die ganze Zeit mit mir unterwegs gewesen. Vermutlich kaufte er gerade ein oder traf irgendwelche anderen Vorbereitungen für den Abend. Ich fragte die Sekretärin nach Adrians Handynummer, doch sie wollte sie mir nicht geben. »Bedaure, das ist vertraulich«, sagte sie nur kühl und legte auf. Ich wählte ein
weiteres Mal die Nummer der Auskunft und ließ mich Adrians Privatanschluss verbinden. Als das Freizeichen er tönte, schlug mir das Herz bis zum Hals. Was sollte ich ihm sagen? Am besten die Wahrheit. Aber was war die Wahrheit? Sorry, Adrian, aber ich liebe Ihren Großonkel, der nebenbei bemerkt tatsächlich in meinem Haus spukt ? Wohl kaum. Also die nicht ganz so komplette Wahrheit. ¡|f würde ihm sagen, dass ich nicht mit ihm ausgehen konnte und dass ich mich nicht so für ihn interessierte, wie er sich das vorstellte. Natürlich höflich und nett verpackt. Je nachdem, wie es lief, hatte ich noch immer die Möglichkeit, ihm meine Freundschaft anzubieten. Sofern er sie haben wollte. Zu meinem Ärger hob auch nach dem zehnten Klingeln niemand ab. Wo steckte der Kerl? Ich wartete noch eine Weile, zählte jedes Klingeln und flüsterte immer wieder: »Geh ran!« Nachdem mein Ohr schon im Takt mittuten konnte und sich noch immer niemand meldete, speicherte ich die Nummer und trennte die Verbindung.
Dann würde ich ihm sagen, dass ich nicht mit ihm ausgehen konnte, wenn er mich abholen kam. So viel Ehrlichkeit hatte er verdient. Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück, tauschte Rock und Bluse gegen Jeans und T-Shirt und löste meine Haare.
»Kannst du mir bitte sagen, was mit dir los ist?«
Ich fuhr erschrocken zusammen, als Nicholas plötzlich in der Tür stand. Die Dämmerung war aufgezogen, ohne dass ich es bemerkt hatte.
Er lehnte im Türstock, als wäre er ein lebender Mann. Ein Blick in seine Augen genügte und meine Knie wurden
weich. »Nicholas«, begann ich, »ich glaube, ich muss dir etwas erklären.«
»Nicht nötig.« Er machte einen Schritt auf mich zu, blieb dann aber stehen. »Ich hatte den ganzen Tag Zeit nachzudenken. Sam, ich war egoistisch und das tut mir leid. Ich habe dich geküsst, weil ich mir nichts mehr gewünscht habe, als das zu tun. Dabei habe ich keine Sekunde daran gedacht, was das für dich bedeutet.«
Was es bedeutete? Es bedeutete mir alles! Ich schwieg.
»Du bist jung. Vor dir liegt noch dein ganzes Leben und du solltest den Teufel tun, das an mich zu verschwenden. Ich ...«Er ballte die Hände zu Fäusten. »Ich will nicht, dass du einsam und traurig bist, wenn ich nicht mehr hier bin.«
Ich wollte widersprechen, wollte ihm sagen, dass wir doch noch gar nicht wussten, ob es uns überhaupt gelingen würde, einen Weg zu finden, ihm seinen Frieden zu schenken, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Genieße dein Leben. Zieh nach Boston, so wie du es dir wünschst. Such dir einen Mann - einen lebendigen Mann -und gründe mit ihm eine Familie. Werde glücklich. Das ist alles, was ich möchte.«
Ich konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. Der Schmerz und die ausweglose Liebe, die ich darin fand, taten so unglaublich weh. Das zu sehen und gleichzeitig zu wissen, dass er Recht hatte, machte mich fertig.
»Was ist, wenn wir keinen Weg finden ...?«
»Sam, ich habe die letzten fünfzig Jahre ...« Er brach ab und ich wette, er hatte »überlebt« sagen wollen. »Ich bin schon so lange hier und es macht mir nichts aus. Ich spüre
keinen Schmerz, werde nicht krank, habe keinen Streit mit den Nachbarn. Nichts. Ich bin einfach nur da. Und das kann ich auch weiterhin sein.«
Was konnte er weiterhin sein? Einsam? Es mochte sein dass ihm äußere Einflüsse nichts anhaben konnten, dennoch hatte er Gefühle. Nicht auszudenken, wie es für ihn sein musste, Tag für Tag allein zu sein, ohne seine Empfindungen mit jemandem teilen zu können!
Unten klopfte es an der Tür. »Das ist Adrian.« Verdammt. Ich drückte mich an Nicholas vorbei. »Bin gleich wieder da.«
»Nein!«
Ich hielt inne. »Nein?«
»Sag ihm nicht ab. Geh mit ihm aus.«
Ich betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen, suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen, wie ich seine Worte zu deuten hatte. Was
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