01 - Der Geist, der mich liebte
ich in seinen Augen fand, erstaunte mich. Es war dieselbe Strategie, die ich mir noch heute Morgen selbst überlegt hatte. Mit Adrian auszugehen, um Nicholas zu vergessen.
»Woher weißt du ...?«
»Dass du ihm absagen willst? Du hast ihm schon wie eine Verrückte hinterhertelefoniert, um ihn wieder loszuwerden.« Sein Blick fiel auf den Rock und die Bluse, die ich achtlos aufs Bett geworfen hatte. »Es ist wirklich nicht zu übersehen, dass du es dir anders überlegt hast. Aber das solltest du nicht.«
Seine Worte verschlugen mir die Sprache. Er liebte mich und trotzdem versuchte er, mich in die Arme eines anderen
zu treiben, damit ich glücklich wurde. War das nun selbstlos oder bloß völlig bescheuert?
Unten klopfte es wieder. Ich ging an Nicholas vorbei zur Treppe. Es war sicher das Beste, dieses Haus so schnell wie möglich zu verkaufen und dann nichts wie weg! Auf nach Boston! Ohne Nicholas und ohne Adrian.
Als ich die Tür öffnete, war ich fest entschlossen, Adrian fortzuschicken.
»Hallo, Sam«, begrüßte er mich mit fröhlichem Grinsen. »Sind Sie fertig?«
»Also, um ehrlich zu sein ...«
»Sagen Sie nicht, Sie haben es sich anders überlegt.« Er klang aufrichtig enttäuscht.
»Nein. Ich bin nur noch nicht ganz fertig«, sagte ich hastig und trat einen Schritt von der Tür weg. »Kommen Sie rein.«
Als ich Adrian in den Flur führte, fiel mein Blick auf Nicholas. Er stand wie angewurzelt oben auf der Treppe und starrte Adrian an. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie es für ihn sein musste, nach so vielen Jahren zum ersten Mal wieder ein Mitglied der eigenen Familie zu sehen. Sichtlich war es nicht leicht.
»... gesehen, Sam?«
»Was?« Blinzelnd sah ich Adrian an.
»Ich habe nur gefragt, ob Sie ein Gespenst gesehen haben«, erklärte Adrian. »Oder warum starren Sie die ganze Zeit die Treppe hinauf?«
»Nein, nein«, sagte ich hastig. Es fiel mir entsetzlich schwer, so zu tun, als sei Nicholas nicht hier. Meine Augen
wanderten immer wieder zu ihm. Etwas an seiner Art gefiel mir nicht. Seine Haltung war angespannt, die Züge ernst und seltsam verkniffen. Wenn er mir jetzt sagen wollte, ich solle doch nicht mit Adrian ausgehen, würde ich ihn erwürgen!
»Sam, schick ihn fort!« Nicholas kam ein Stück die Treppe herunter.
Das durfte nicht wahr sein! Wusste er überhaupt, was er wollte? Um ein Haar hätte ich ihn angefahren. Mir fiel gerade noch ein, dass Adrian hier war und ich schlecht vor ihm mit Nicholas sprechen konnte. Ohne Nicholas aus den Augen zu lassen, sagte ich hastig zu Adrian: »Ich habe nur gerade überlegt, wo ich meine Jacke hingelegt habe.«
»Da bin ich ja beruhigt. Ich hatte schon befürchtet, Sie würden wieder behaupten, der Geist meines Uronkels ginge um.«
»Geist?« Ich lachte nervös. »Unsinn!«
Nicholas kam noch ein Stück näher. »Sam, du darfst auf keinen Fall mit ihm ausgehen!«
»Was?«, entfuhr es mir.
»Was sagen Sie?«, fragte Adrian.
»Du sollst nicht mit ihm ausgehen!«, herrschte Nicholas so laut, dass ich zusammenzuckte. So hatte ich ihn noch nie gesehen. War das Eifersucht? Zorn? Der Blick, mit dem er Adrian bedachte, war derart hasserfüllt, dass ich es mit der Angst zu tun bekam. Noch nie hatte Nicholas so bedrohlich gewirkt.
»Sam!« Wieder Adrian.
Ich wusste gar nicht mehr, wo ich hinsehen sollte. Oder
wem ich laut antworten durfte und wem nicht. Etwas stimmte nicht mit Nicholas. Obwohl ich ihn nur ausgesprochen widerwillig aus den Augen ließ, wandte ich mich schließlich Adrian zu. »Ja?«
»Sie wirken ein wenig verwirrt.«
Gleichzeitig brüllte Nicholas: »Schick ihn fort!«
»Sam?« Adrian berührte meinen Arm. Ich fuhr erschrocken zusammen. Da nahm er mich bei den Schultern und zwang mich, ihn anzusehen. Im Hintergrund schrie Nicholas so laut, dass ich seine Worte nicht einmal mehr verstehen konnte. Hätte Adrian mich nicht festgehalten, dann hätte ich mir die Ohren zugehalten, um sein Gebrüll nicht mehr hören zu müssen. »Sam, sehen Sie mich an! Sind Sie noch immer so verwirrt von der Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe?«
»Geschichte?« Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, doch da war es auch schon zu spät.
»Von meinem Großonkel Nicholas, der versucht hat Grandpa zu ermorden. Erinnern Sie sich?«
Oh ja, das tat ich. Jetzt brach die Hölle über mich herein. Adrian hatte die Worte kaum ausgesprochen, da brüllte Nicholas: »Ich bin kein Mörder!« Nicht dass Adrian ihn hätte hören oder
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