01 - Der Geist, der mich liebte
fürchtete ich, dass mir meine Beine ohnehin nicht gehorchen würden, und zum anderen war etwas in seinem Verhalten, das einen Funken des alten Vertrauens aufflammen ließ, das bisher zwischen uns geherrscht hatte. Seit ich den Keller betreten hatte, hatte er alle Zeit der Welt gehabt, mich zu töten. Ich war noch am Leben. Vielleicht sagte er wirklich die Wahrheit. Es kam auf einen Versuch an. Zumindest konnte ich so ein wenig Zeit gewinnen, um darüber nachzudenken, wie ich das Buch, das noch immer im Tresorraum lag, zu fassen bekommen und fliehen konnte.
»Wie kommt es, dass du mich anfassen kannst?« Das musste ich einfach wissen.
»Der Bibliothekar.«
»Oh mein Gott, du hast...«
»Ich habe ihn nicht umgebracht. Er hat geschlafen, da habe ich mir etwas von seinem Atem genommen. Anders hätte ich keine Chance gehabt, dich daran zu hindern, wieder vor mir davonzulaufen.«
»Aber ...«, setzte ich an.
»Ich habe gesehen, dass du die Bibliotheksschlüssel genommen hast. Da war mir klar, wo du hinwolltest. In Tess' Haus warst du so sehr in Panik, dass ich nicht den Eindruck hatte, du würdest auch nur eines meiner Worte verstehen. Also wollte ich dich hier abfangen.«
»Worte?«, echote ich. »Du hast mich angebrüllt. Wie hätte ich da etwas verstehen sollen?«
»Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Du hattest solche Angst vor mir. Ich fühlte mich so hilflos und hoffte, ich könnte dich dazu bringen, mir zuzuhören, wenn ich dich nur laut genug anschreie. Das war ein Irrtum. Ich habe dir nur noch mehr Angst gemacht.« Er streckte die Hand nach meiner Wange aus, zog sie dann aber wieder zurück, ohne mich zu berühren. »Es tut mir leid, Sam.«
Ich fand keine Lüge in seinen Augen, nur Wärme und Bedauern. Dennoch gab es einiges, was ich nicht verstand und was mich davon abhielt, ihm zu vertrauen.
Ich schloss für einen Moment die Augen. »Warum hast du Adrian angegriffen?«, fragte ich, als ich sie wieder öffnete.
»Weil er nicht das ist, wofür du ihn hältst. Er ...«
»Halt! Warte!« Ich hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen. »Ich weiß inzwischen, dass du denkst, er sei dein Bruder. Das ist er nicht, Nicholas. Dein Bruder ist über siebzig. Alt und schwer krank. Adrian ist sein Enkel.«
Nicholas schüttelte den Kopf. »Ich erkenne meinen Bruder, wenn ich ihn sehe.«
»Nein, tust du nicht. Ich habe ein Porträt deines Bruders gesehen, als ich bei Adrian war. Adrian ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Das ist der Grund, warum du ihn für deinen Bruder gehalten hast. Aber er ist es nicht.« Jetzt griff ich nach seiner Schulter und zwang ihn, mich anzusehen. »Du hast dich geirrt, das ist alles.«
»Hast du meinen Bruder gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er hat schon geschlafen.«
»Nein, das hat er sicher nicht.« Er griff nach meiner Hand, die auf seiner Schulter lag. Seine Berührung war warm und fest. »Du kennst meinen Bruder nicht, Sam. Du weißt nicht, wozu er fähig ist.«
Nicholas war sein ganzes Leben lang eifersüchtig auf seinen Bruder. Deshalb hat er beschlossen, ihn zu töten. Das waren Adrians Worte gewesen. »Adrian sagt, du hättest versucht, deinen Bruder zu töten«, begann ich leise. »Ist das wahr?«
Er fuhr zurück, als hätte ich ihn geschlagen. »Das ist eine Lüge!«
»Dann würde ich jetzt gerne hören, was wirklich geschehen ist.« Ich musste es wissen. Andernfalls würde ich ihm niemals wieder vertrauen können.
Nicholas wirkte unentschlossen. Sein Blick wanderte durch den Raum, als wollte er die Erinnerung an die Vergangenheit einfangen. Schließlich richteten sich seine Augen wieder auf mich. »Also gut.« Zu meinem Erstaunen setzte er sich neben mich auf den Tisch. Einen Augenblick lang war ich versucht aufzuspringen und doch noch davonzulaufen. Meine Neugier und der Wunsch, jenen Nicholas zurückzubekommen, den ich kannte und liebte, waren stärker. Ich blieb sitzen und wartete.
»Vater hat das Haus auf dem Fundament des alten Baker-Hauses errichten lassen«, begann er endlich. »Er hielt die Geschichten über Hexen und böse Zauber für Aberglaube.« Mein Blick streifte den Tresorraum und heftete sich auf die Bücher, die darin lagerten. Nicholas bemerkte es. »Einige der Bücher, die du dort siehst, wurden gefunden, als die Bauarbeiter das Fundament erweitern sollten. Vater übergab sie dem Reverend. Aber es waren nicht alle.
Wir wohnten seit etwa zwei Jahren in dem Haus, als Adrian und ich das Buch fanden. Es war hinter einem losen Stein im
Weitere Kostenlose Bücher