01 - Der Geist, der mich liebte
irrte ich mich auch, was den Nebel anging, denn es war so eisig, dass mein Atem dampfend in die Luft stieg. Mit dem Rücken an die Wand gepresst stand ich da und starrte in den Raum. Meine Finger klammerten sich noch immer um die Lampe, die jetzt Waffe und Lichtquelle in einem war. Ich hielt den Atem an, bis keine störenden Kondenswolken mehr aufstiegen. Dann suchte ich mit meinem Blick nach
dem Eindringling. Doch da war niemand. Ich war allein.
Den Rest der Nacht verbrachte ich im hell erleuchteten Wohnzimmer. Hier unten war es kühl, aber längst nicht so kalt wie zuvor in meinem Schlafzimmer. Ich verschob den Sessel so weit, dass ich mit dem Rücken zur Wand sitzen konnte. Allein die Vorstellung, etwas — oder jemand — könnte sich von hinten an mich heranschleichen, war grauenhaft. In eine Decke gewickelt saß ich da, die Nachttischlampe
noch immer als Waffe im Schoß, und gab mir redlich Mühe, nicht auf die geschlossenen Gardinen zu blicken.
Hab keine Angst. Hatte ich das wirklich gehört? Hatte ich wirklich einen Mann gesehen, der sich über mich beugte? Nach einer Weile kam ich mir reichlich albern vor. Ich hatte einen Albtraum gehabt, nichts weiter. Manchmal kamen mir meine Träume eben sehr real vor. Das war nicht das erste Mal, dass ich geträumt hatte, obwohl ich überzeugt war, längst wach zu sein. Vermutlich war ich erst in dem Moment wirklich aufgewacht, als ich aus dem Bett sprang.
Ich versuchte erfolglos, mich an das Gesicht zu erinnern, das ich gesehen - oder zu sehen geglaubt - hatte. Nur die Stimme war in meinem Gedächtnis hängen geblieben. Sie war mir so real erschienen, dass ich noch immer glaubte, sie zu hören. Ein sanfter, warmer Tonfall, der mich nicht mehr loslassen wollte. Wenn es ein Traum war, sollte die Erinnerung dann nicht langsam verblassen?
»Sam, du spinnst doch!«, schimpfte ich mit mir selbst. Ich war noch keinen Tag hier und begann schon Gespenster zu sehen. Ausgerechnet ich, die ich immer so viel Spaß an Horror- und Gruselfilmen hatte, fürchtete mich plötzlich vor Geistern?
»Es gibt keine Geister!«, rief ich, wenig begeistert darüber, dass ich nach ein paar Stunden des Alleinseins bereits begann, Selbstgespräche zu führen. Nicht auszudenken, in welchem Zustand ich mich befinden würde, wenn ich erst länger hier wäre!
Ich dachte daran, nach oben zurückzukehren, um mich
noch einmal genauer umzusehen. Bei dem bloßen Gedanken beschleunigte sich mein Herzschlag jedoch so sehr, dass ich vorsichtshalber davon absah. Ich redete mir ein, dass ich bei Tageslicht ohnehin mehr erkennen würde.
Wenn ich überhaupt jemanden gesehen hatte, dann wohl eher einen Einbrecher als einen Geist. Wobei mir nicht in den Kopf wollte, wie ein Mensch so schnell und lautlos hätte verschwinden können.
Am nächsten Morgen zog ich als Erstes alle Gardinen zurück, um die Sonne hereinzulassen. Ich verwandte einige Zeit darauf, nach Spuren zu suchen, doch ich fand nicht den geringsten Hinweis, dass außer mir noch jemand im Haus gewesen war. Alle Fenster und Türen waren nach wie vor verriegelt. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass alles doch nur ein Traum gewesen war, schnappte mir ein paar frische Sachen und ging unter die Dusche. Zu meiner Überraschung war das Bad der einzige Raum im Haus, in dem nicht eisige Kälte herrschte.
Trotz der durchwachten Nacht fühlte ich mich nach der Dusche langsam wieder wie ein Mensch. Ich hörte auf, mir Sorgen über Geister zu machen, und begann stattdessen, mein Augenmerk auf die Arbeit zu lenken, die vor mir lag.
Mir wurde schnell klar, dass ich die Tapeten in den oberen Stockwerken erneuern musste. Das Treppengeländer musste neu lackiert und die Holzböden mussten abgeschliffen und frisch versiegelt werden. Ebenso würde ich einige Wandpaneele ausbessern, Teppichböden austauschen und Wände neu streichen müssen. Das waren nur die Dinge, die
ich auf den ersten Blick erkannte. Das ganze Ausmaß der anstehenden Arbeiten würde ich vermutlich erst ermessen können, wenn die Möbel raus waren.
Ich hätte gerne etwas gegessen, doch die einzigen nicht verdorbenen Lebensmittel, die ich finden konnte, waren ein paar Beutel Kamillentee und eine Packung Zwieback. Sofern man dabei überhaupt von Lebensmitteln sprechen konnte. Ich beschloss, das Frühstück erst mal ausfallen zu lassen und mir später in Cedars Creek etwas Essbares zu besorgen.
In aller Eile mistete ich Kühlschrank und Speisekammer aus und packte alles in einen
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