01 - Der Geist, der mich liebte
Ich wollte ihr erzählen, wie schwer es mir fiel, hier zu sein, und wie sehr ich den Gedanken hasste, alles fortzugeben, was einmal Tante Fiona gehört hatte.
Das Haus liegt an einem Friedhof!, wollte ich herausschreien, doch ich schluckte die Worte hinunter.
Sue war meine beste Freundin. Wenn sie auch nur das leiseste Anzeichen entdeckte, dass es mir nicht gut ging, würde sie sich augenblicklich auf den Weg zu mir machen. Selbst wenn das bedeutete, ihren Job in der Anwaltskanzlei, in der sie erst vor einer Woche angefangen hatte, aufzugeben. Das wollte ich nicht. Sie hatte ein Recht auf ihren Traumjob.
»Ich bin okay«, sagte ich schnell, um ihr keinen Grund zu geben, in Minneapolis alles stehen und liegen zu lassen und mir hierher ans Ende der Welt zu folgen.
Sue seufzte vernehmlich. »Du vergisst, dass ich dich seit einer Ewigkeit kenne. Komm mir also nicht mit dieser Mir-kann-nichts-etwas-anhaben-Tour. Ich weiß, dass du gerne mit deinem Sarkasmus und deinem losen Mundwerk darüber hinwegtäuschst, was wirklich in dir vorgeht, und manchmal glaube ich, du kannst dich damit sogar selbst täuschen. Bei mir gelingt dir das nicht. Also versuch es gar nicht erst.«
Manchmal war es wirklich ein Fluch, dass sie mich so gut kannte. »Du musst dir keine Sorgen machen.«
»Sam, bist du sicher, dass ...«
»Ja«, unterbrach ich sie hastig. »Wenn etwas nicht in Ordnung wäre, würdest du es als Erste erfahren. Jetzt erzähl mir lieber, was es bei dir Neues gibt!«
Während der nächsten halben Stunde versorgte Sue mich mit allen Neuigkeiten, die sich während der letzten drei Tage zu Hause ereignet hatten. Sie erzählte mir von ihrem Date mit einem Typ aus der Kanzlei, den ich nicht kannte, und davon, wie glücklich sie mit ihrem Job war. Allein das bestätigte mich darin, den Mund zu halten und ihr nicht zu sagen, wie ich mich tatsächlich fühlte. Als ich schließlich das Gespräch beendete und das Handy auf den Couchtisch legte, erschien mir die plötzliche Stille erdrückend.
Ich stand auf und schaltete das Radio ein. Ein wenig Musik würde die Stille erträglicher machen. Doch ganz gleich, wie sehr ich mich auch bemühte, einen Sender einzustellen, es wollte mir nicht gelingen, mehr als ein statisches Rauschen zu empfangen. Gefrustet schaltete ich das Gerät wieder ab und holte stattdessen mein Gepäck aus dem Wagen. Ich hatte genügend Sachen dabei, um für einige Wochen über die Runden zu kommen. Der Hauptgrund jedoch, warum ich die lange Autofahrt auf mich genommen hatte, anstatt mich bequem in ein Flugzeug zu setzen, war, dass ich im Wagen jene Dinge aus Tante Fionas Erbe transportieren konnte, von denen ich mich nicht trennen wollte. Die Bilder im Flur würden mich ganz bestimmt nach Hause begleiten.
Inzwischen wurde es allmählich dunkel, sodass ich, als ich mit meinen Sachen ins Haus kam, zum Lichtschalter griff. Nachdem mich schon das Radio im Stich gelassen hatte, erwartete ich fast, dass das Licht auch nicht funktionieren würde. Das Haus am Friedhof ohne elektrisches Licht. Das wäre der Moment, in dem ich ganz bestimmt kehrtmachen und mir doch ein Zimmer im Ort suchen würde. Der Schalter klickte vernehmlich. Augenblicklich wurde es hell.
Erleichtert wuchtete ich meine beiden Reisetaschen die Treppen hoch und stellte sie erst einmal im Gang ab. Hier oben war es wesentlich wärmer. Vielleicht kam es mir, nachdem ich die schweren Taschen heraufgeschleppt hatte, auch nur so vor.
Vom Flur gingen vier Türen ab. An einer Wand stand
eine monströse Kommode, darüber hing ein ovaler Spiegel in einem schmiedeeisernen Rahmen. Ein wunderschönes, altmodisches Stück. Hinter mir knarrte eine Stiege. Ich fuhr herum. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte. Natürlich war da nichts. Ich war allein in einem alten Haus. Die Treppen waren aus Holz, so wie das meiste hier. Holz knarrte nun einmal. Plötzlich kam ich mir lächerlich vor.
Kopfschüttelnd über meine eigene Angst öffnete ich die erste Tür. Dahinter lag ein geräumiges Schlafzimmer mit einem riesigen, begehbaren Kleiderschrank. Hier waren die Möbel heller als im Wohnzimmer. Die geblümten Tapeten waren zwar nicht mein Geschmack, verliehen dem Raum aber zusammen mit den bunten Läufern, die auf dem Parkett lagen, etwas Gemütliches. Über einem Schaukelstuhl hingen eine Jeans und eine weiße Bluse, darunter standen knallrote Sneakers, einer war zur Seite gekippt. Der Anblick traf mich ins Mark. Es sah aus, als sei Tante Fiona noch hier. Vielleicht
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