01 - Der Ring der Nibelungen
sind im Königreich Xanten!«
Siegfried hielt inne, und sein Pferd blieb stehen. Viele Reiter zogen vorüber, während er in eine eigene Welt versank.
Xanten.
Jetzt spürte er es auch.
Kriemhild stand auf dem Wehrgang, der die Mauer krönte und die Burg nach Osten schützte. Es war ein früher Abend, und die Sonnenscheibe berührte fast den Horizont.
Sie wusste natürlich, dass sie das Heer ihres Bruders nicht sehen konnte. Auch bei klarstem Himmel reichte der Blick kaum bis zu den Grenzen des Rheintals. Sie sah den Fluss, die weiten Felder, die Wälder und die Stadt, die ihr Königreich ausmachten. Ein einsames, leeres Reich, nun, da Gunther die Waffen gegen Hjalmar führte.
Und Siegfried.
Schon der Gedanke an ihn verursachte ein Stechen in ihrer Brust, und sie musste den Zwang unterdrücken, aus dem Burgtor hinter den Truppen herzulaufen, um ihn bettelnd von dieser Torheit abzuhalten.
Kriemhild weinte ein paar Tränen, betete ein paar Gebete und hoffte darauf, dass Heldenmut und Güte in den Augen Gottes das Geschenk des Sieges rechtfertigten.
Sie erschrak, als eine leise Stimme hinter ihr erklang. »Prinzessin?«
Es war Elsa, Hagens blasse, schmale Tochter, deren seltsam verlorener Blick vielen bei Hofe unheimlich war. Kriemhild ertappte sich dabei, dem Mädchen böse zu sein, weil sie störte, wenngleich der Wehrgang keine Einsamkeit versprochen hatte. »Was willst du?«
Elsa zuckte zusammen, als habe sie den Riemen einer Peitsche gespürt. Ihre Empfindsamkeit stand in unübersehbarem Widerspruch zur Hartherzigkeit ihres Vaters. »Nichts, ich . . . ich wollte nur ein wenig in den Osten sehen.«
Es kostete Kriemhild Mühe, dem Mädchen den wenigen Respekt zu gewähren, den sie verdiente. »Das ganze Reich schaut derzeit besorgt nach Osten.«
Elsa stellte eine Holzschüssel auf die steinerne Mauer, rührte die darin dampfende Suppe aber nicht an.
Sie standen für eine kleine Weile schweigend beisammen.
»Du darfst in meiner Gegenwart ruhig essen«, bemerkte Kriemhild schließlich, mehr, um sich selbst zu beweisen, dass sie auch Hagens Tochter keine Missachtung zukommen ließ.
»Sie ist nicht für mich«, murmelte Elsa, als sei damit alles gesagt.
Der Blick der beiden Frauen ging starr zum Horizont. Wieder standen sie, als würde es Stille brauchen, damit ihre Seelen nach den Liebsten rufen konnten. Schwarz wie ein Rabe die eine, blond wie eine Taube die andere, vereint in Sehnsucht.
»Ist es der Brauch deiner Götter, mit Speisen um Milde für die Familie zu bitten?«, wollte Kriemhild wissen. Der Glaube an Walhall und das wilde Pack um Odin war ihr fremd, auch wenn noch unter ihrem Großvater die Christen im Rheintal zerstückelt in den Fluss geworfen worden waren.
»Es ist kein Brauch«, antwortete Elsa. »Nur die Erfüllung eines Versprechens. Und es gilt nicht meinem Vater, den Ihr so hasst, dass Ihr seine schwarze Seele seht, wenn Euer Blick auf mich fällt.«
Es stimmte - die Prinzessin hasste Hagen so inniglich, dass jede Person, die ihm nahe stand, ihr körperliches Unbehagen bereitete. Es war, als könnte die Berührung des verschlagenen Einäugigen unauswaschbare Flecken hinterlassen oder eine schleichende Krankheit verbreiten. Und Elsa war nicht nur aus seinem Umfeld - sie war sein Blut, das Ergebnis einer Vereinigung, die Kriemhild bereits in der Vorstellung ekelte.
Es war ein offeneres Wort, als einem Mädchen zustand, welches nur als Tochter eines geachteten Ratgebers bei Hofe Zuflucht fand. Kriemhild dachte einen Moment daran, sie empört zurechtzuweisen, aber dann war sie von der Klarheit der Worte beeindruckt. »Du sprichst von einer schwarzen Seele beim eigenen Vater?«
Elsa senkte die Augen. »Die Wahrheit schmerzt, aber nicht mehr als beständige Enttäuschung, weil man sich ihr verweigert.«
»Kluge Worte für ein Mädchen von . . .«, sagte Kriemhild, »wie alt bist du ... sechzehn, siebzehn?«
Etwas Trotz schlich sich in Elsas Augen, als sie antwortete: »Alt genug für die Wahrheit - und alt genug für die Liebe!«
Kriemhild konnte nicht anders - sie musste lachen. Und weil es das erste Lachen war, seit Burgund gegen Hjalmar zog, öffnete es ihre Seele ein wenig. »Du redest, als stündest du vor Gericht. Wenn du jemanden suchst, der dir das Recht auf Liebe abspricht, musst du jemanden finden, der nicht selbst von ihr gefangen ist.«
Elsa war von diesem Stimmungswechsel sichtlich erstaunt. »Dann . . . dann tadelt Ihr mich nicht für mein dummes
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