01- Die Normannenbraut
durfte sich frei bewegen, wenn Sigurd ihr auch immer in einigem Abstand folgte. Zu ihrer Verwunderung sah sie eine Frau viel zu nah am Felsenrand stehen, genau an der Stelle, wo sie Olaf am Tag vor seiner Abreise begegnet war.
Als Erin näherkam, erkannte sie Mageen. Ohne lange zu überlegen, drückte sie die Schuhabsätze in die Flanken ihrer Stute und galoppierte zu der reglosen Frau, die sich nicht umdrehte, obwohl sie die donnernden Hufschläge hören musste. Sie rührte sich auch nicht, als Erin abstieg und zu ihr ging. Offenbar bemerkte Mageen die Anwesenheit ihrer Feindin gar nicht. Wie im Traum starrte sie zur Felsenküste hinab.
»Mageen?« begann Erin zögernd.
Die blasse Frau gab keine Antwort und trat noch näher an den Klippenrand heran. Instinktiv packte Erin sie am Arm, riss sie mit sich zu Boden, rollte mit ihr vom Abgrund weg. Erst jetzt schien Mageen aus ihrem seltsamen Traum zu erwachen und blinzelte verwirrt.
Ohne das Handgelenk der Frau loszulassen, setzte Erin sich auf. Mageens Augen zeigten keine Dankbarkeit. »Warum habt Ihr mich zurückgehalten?«
»Wolltet Ihr Euch das Leben nehmen?« Wie Erin erst jetzt bemerkte, fehlte Mageens dichtem Haar der frühere schöne Glanz. Der einst so wohlgerundete Körper war fast ausgemergelt. Die Augen, noch vor wenigen Monaten fröhlich und strahlend, wirkten leer und leblos.
»Es wäre am besten gewesen«, erwiderte Mageen leise. »Ihr werdet stets die Siegerin bleiben nicht wahr, Erin von Tara? Ihr besitzt Gold und Juwelen und die Krone - und ein Wort von Euch genügt, um mir alles zu nehmen. Sogar die Huren, Bettler und Diebe wenden sich von mir ab. «
»Was meint Ihr?«
Ehe Mageen antworten konnte, sprengte ein Pferd heran, in dessen Sattel der stets wachsame Sigurd saß. ‘
»Erin, Ihr müsst Euch vom Klippenrand entfernen!« Argerlich stieg er ab.. »Ihr werdet diese Angelegenheit mir überlassen! Stellt Euch vor, Ihr wärt da hinuntergestürzt! Was würde Olaf sagen?«
Er wollte ihr auf die Beine helfen, doch sie schob seine Hand entschlossen beiseite. »Nein, Sigurd, ich will mich selbst um Mageen kümmern. Und ich werde gewiss nicht hinunterfallen.«
Zögernd runzelte er die Stirn. »Nun gut, Ihr könnt kurz mit ihr sprechen. Ich erwarte Euch da drüben beim Wäldchen.« Während er davonritt, drehte er sich immer wieder besorgt zu ihr um.
»Nie habe ich Euren Tod gewünscht«, versicherte sie der unglücklichen Frau. Und nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Ihr müsst wissen, dass ich nicht hierherkommen wollte. Und nach meiner Freiheit auch noch die Achtung der Leute zu verlieren - das war mehr, als ich ertragen konnte. «
Mageen lachte freudlos. »An Eurer Stelle hätte ich mir die Haare ausgerissen, Mylady - aber nicht aus Wut über den mangelnden Respekt der Menschen in meiner Umgebung. Ich habe den König geliebt. Und ich frage mich, ob nicht auch Ihr gegen Euren Willen Liebe für ihn empfindet.«
Unbehaglich senkte Erin den Blick. »Es lohnt sich nicht, für einen Mann wie Olaf zu sterben. Er liebt niemanden. «
»Darum geht es mir nicht. Ihr habt ja keine Ahnung, Mylady … Ich wurde aus der großen Halle verbannt, die Händler verkaufen mir nichts. Die Krieger suchen meine Hütte nicht auf. Niemand in der Stadt grüßt mich.«
Erin erhob sich und streckte eine Hand nach Mageen aus, die sie misstrauisch ansah. »Bitte, zürnt mir nicht länger. Ihr habt mir gezeigt, wie leicht man seine Macht missbrauchen kann, ohne es zu wollen. Dass Ihr so grausam gestraft wurdet, wusste ich nicht, und das lastet schwer auf meinem Gewissen. Natürlich werde ich meinen Mann nicht mit Euch teilen.« Wehmütig lächelte sie. »Obwohl ich zu dieser Ehe gezwungen wurde … Aber ich will wiedergutmachen, was Euch angetan wurde . Wenn Ihr eine Freundin in dieser Stadt sucht, dann habt Ihr eine gefunden - mich. Heute abend erwarte ich Euch in der Halle, und alle sollen sehen, dass Ihr willkommen seid.«
Langsam ergriff Mageen die Hand der Königin und schaute ihr ungläubig in die Augen, dann stand sie auf. »Danke, Mylady.«
»Sagt mir … « Erin schluckte verlegen. »Besitzt Ihr noch andere Talente außer - ich meine … «
Da kicherte Mageen, und Erin freute sich, als der kecke Humor allmählich in die glanzlosen Augen ihrer neuen Freundin zurückkehrte. »Ihr wollt wissen, ob ich noch etwas anderes beherrsche als die Künste einer Hure? Aye, ich kann kochen und nähen. Aber ich lernte schon vor langer Zeit, welch wankelmütige
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