01 - Ekstase der Liebe
Kleider wollte, wusste er
nicht. Tonarelli wusste, dass es nur alte Kleider waren, denn er und seine Frau
hatten natürlich sehr genau nachgesehen, als der alte Franzose praktisch vor
ihrer Haustür gestorben war. Der Franzose hatte gesagt, dass jemand
vorbeikommen würde, um das Päckchen abzuholen, und so war es geschehen. Aber
weder Marco noch seine Frau Luce konnten herausfinden, warum um alles in der
Welt jemand die Kleider des alten Franzosen haben wollte.
Sie
begruben ihn auf dem Friedhof am Ende des kleinen Dorfes, aber Mario behielt
das Päckchen. Und tatsächlich kam nur sechs Monate später ein Römer und fragte
danach.
Marios
Augen leuchteten auf Der Römer zählte ihm einen kleinen Haufen goldener Lire
vor. Wen kümmerte es, warum er diese muffigen, alten Klamotten haben wollte?
»Grazie!«, sagte Tonarelli
mit aufrichtiger Dankbarkeit in der Stimme. Er verharrte einen Augenblick vor
der Tür seiner Osteria und beobachtete, wie der Römer zu seiner Kutsche
zurückging. Er sah sehr gut aus, dieser Römer. Er war groß und hatte einen
arroganten, kraftvollen Gang, den Mario sehr bewunderte. Er selbst war von
Luces Champignonpasta rund geworden, doch er war nie so gegangen wie der Mann
es von Natur aus tat. Wie ein Wolf, dachte Mario. Seine Hand schloss sich fest
um die Münzen.
»Luce«,
brüllte er, als Alex seinen langen, gewundenen Abstieg begann. Marios
plötzlicher Ruf erschreckte die Hühner auf der Piazza, dem Platz in der Mitte
des Dorfes, der von drei Steinhäusern, seiner Schenke und der Kirche umgeben
war.
»Ist er
weg?« Seine Frau kam atemlos um die Ecke eines Gebäudes. Sie war gerade dabei,
die Wäsche in der Steinwanne hinter dem Brunnen zu waschen, und ihr Kleid war
voller Wasserspritzer.
In
Beantwortung ihrer Frage streckte Mario die Hand aus und zeigte ihr die Münzen.
»Grazie
a Dio!«, meinte
Luce einfach. Mario lächelte und ging auf sie zu, wobei er den arroganten Gang
des Römers nachzuahmen versuchte. »Ich werde heute ein paar Blumen zum Grab
bringen, zu dem alten Mann«, fügte Luce hinzu.
Mario
nickte. Er verdiente Blumen, dieser Franzose. Er hatte sie reich gemacht, indem
er auf ihrer Schwelle gestorben war. jetzt konnten sie nicht nur eine Kuh
kaufen, sondern auch noch etwas Geld für einen weiteren Maulesel ausgeben. Ihr
Maulesel Lia war sechzehn Jahre alt und sie strauchelte oft, wenn sie alle paar
Wochen den Berg hinaufklettern und einen Wagen voller Waren, die sie in der
Schenke verkauften, ziehen musste.
In der
Kutsche starrte Alex das Päckchen in seiner Hand nachdenklich an. Er hasste das
verdammte Ding inzwischen. Er war in Paris angekommen, nur um festzustellen,
dass das Haus, nach dem er suchte, ein paar Wochen zuvor von der Polizei
abgebrannt worden war. Um nicht durch übermäßiges Interesse aufzufallen, war er
gezwungen gewesen, Paris sofort zu verlassen und einen schäbigen französischen
Spion anzuheuern, der zurückging, um herauszufinden, was geschehen war und
wohin die Bewohner gegangen waren. Das hatte zwei verfluchte Monate gedauert, mehr
als zwei Monate.
Und
alles, was Alex tun konnte, war, den italienischen Händler zu spielen, der
französischen Wein exportieren wollte. Er achtete jedoch streng darauf,
Frankreich erst an dem Tag zu betreten, an dem er ungezwungen die Grenze
überquerte, sein Pferd schnurstracks zum Haus eines bestimmten Putzmachers
lenkte und es drei Minuten später mit einem sehr verängstigten französischen
Mädchen, Luciens Schwester Brigitte, verließ. Die Rettung Brigittes lief wie am
Schnürchen. Sie wurden an der Grenze zu Italien nicht einmal angehalten, sondern
nur von ein paar gelangweilten Soldaten durchgewunken.
Als er
die Geschichte hörte, wie der Mob zu Luciens Haus gekommen war, wie seine Frau
und sein Kind starben und wie Brigitte ihrer Gefangennahme nur dadurch entgangen
war, dass sie sich unter einem Wäschehaufen versteckte, brannte Alex darauf,
nach Hause zu fahren. Natürlich waren Pippa und Charlotte in England gesund und
glücklich. Dennoch
wurde
Alex sich durch den Ausdruck in Luciens weißem Gesicht und die Art, wie er
seine kleine Schwester fest an seine Brust drückte, seiner Sterblichkeit
bewusst.
Er
ertappte sich dabei, wie er die ganze Zeit an Charlotte dachte: Er stellte sich
nicht einmal vor, wie er mit ihr schlief, sondern vielmehr Charlottes lachendes
Gesicht am Morgen,
wenn
Pippa ins Bett kletterte und Schokolade auf den Laken verschüttete. Wie sie
sich auf die Unterlippe biss, wenn
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