01 - Gnadenlos
dieser Perspektive so gemütlich, so behaglich, solange niemand näher hinsah. Doch zumindest mußte Kelly nicht auf Leuchtspurmuniton achten.
Am Avis-Schalter stand schon ein Wagen inklusive Stadtplan für ihn bereit. Es stellte sich heraus, daß er auch nach Panama City, Florida, hätte fliegen können, aber New Orleans, entschied er, kam ihm gerade recht. Kelly verstaute seine beiden Koffer und fuhr los in Richtung Osten. Es war beinahe wie am Steuer seines Bootes, wenn auch etwas hektischer, eine tote Zeit, in der er seinen Verstand arbeiten lassen und Möglichkeiten und Vorgehensweisen durchdenken konnte, während seine Augen den Verkehr beobachteten, sein Geist aber etwas vollkommen anderes sah. Er begann sogar zu lächeln, ein Hauch von Gelassenheit in seinen Zügen, was ihm gar nicht bewußt wurde, als er sich in der Phantasie einen vorsichtigen und wohlbedachten Ausblick auf die nächsten paar Wochen genehmigte.
Vier Stunden nach der Landung, nachdem er die südlichen Landstriche von Mississippi und Alabama durchquert hatte, hielt er den Wagen am Haupttor des Luftwaffenstützpunktes Eglin an. Genau das passende Übungsgelände für die KINGPIN-Truppe; Hitze und Feuchtigkeit entsprachen exakt dem Land, in dem sie schließlich gelandet waren. Kelly wartete vor dem Wachhäuschen auf eine blaue Luftwaffenlimousine, die ihn abholen sollte. Als sie kam, stieg ein Offizier aus.
»Mr. Clark?«
»Ja.« Er übergab ihm seine Ausweismappe. Der Offizier salutierte sogar vor ihm, eine neue Erfahrung für Kelly. Da war jemand überaus beeindruckt vom CIA. Dieser junge Offizier hatte wahrscheinlich noch nie mit jemandem vom Dienst zu tun gehabt. Freilich hatte sich Kelly sogar die Mühe gemacht, eine Krawatte umzubinden, in der Hoffnung, so respektabel wie möglich auszusehen.
»Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Sir.« Der Offizier, Captain Griffin, führte ihn zu einem Zimmer im ersten Stock der Wohngebäude für unverheiratete Offiziere, das etwa einem Mittelklasse-Motel entsprach und angenehm nahe am Strand lag. Nachdem er Kelly beim Auspacken geholfen hatte, ging Griffin mit ihm in den Offiziersklub, wo, wie er sagte, Kelly Besucherstatus genoß. Er brauchte nur seinen Zimmerschlüssel vorzuzeigen.
»Ich kann diese Gastfreundschaft nicht erwidern, Captain.« Kelly fühlte sich verpflichtet, das erste Bier zu kaufen. »Sie wissen, warum ich hier bin?«
»Ich bin dem Geheimdienst zugeteilt«, erwiderte Griffin.
»KINGPIN?« Wie in einem Film blickte der Offizier sich erst nach allen Seiten um, bevor er antwortete.
»Ja, Sir. Wir haben Ihnen alle Dokumente bereitgelegt, die Sie brauchen. Ich habe gehört, Sie haben drüben auch Sonderoperationen durchgeführt.«
»Stimmt.«
»Ich möchte Sie etwas fragen, Sir«, sagte der Captain.
»Schießen Sie los«, lud Kelly ihn zwischen zwei Schlukken ein. Er war nach der Fahrt von New Orleans richtig ausgetrocknet.
»Wissen Sie, wer den Einsatz hat auffliegen lassen?«
»Nein«, erwiderte Kelly und fügte aus einer Laune heraus hinzu: »Vielleicht kann ich dazu was aufspüren.«
»Wir glauben, daß mein großer Bruder in diesem Lager gewesen ist. Er wäre jetzt daheim, wenn da nicht so ein... «
»Scheißkerl«, ergänzte Kelly hilfreich. Der Captain wurde tatsächlich rot.
»Wenn Sie ihn identifizieren, was dann?«
»Nicht meine Abteilung«, erwiderte Kelly, der seine Bemerkung bereits bedauerte. »Wann fange ich an?«
»Das ist für morgen früh vorgesehen, Mr. Clark, aber die Dokumente sind schon alle in meinem Büro.«
»Ich brauche ein ruhiges Zimmer, eine Kanne Kaffee und vielleicht ein paar Sandwiches.«
»Ich denke, dafür läßt sich sorgen, Sir.«
»Dann fangen wir doch gleich an.«
Zehn Minuten später wurden Kellys Wünsche erfüllt. Captain Griffin hatte ihn mit einem großen gelben Notizblock und einer Reihe von Bleistiften ausgestattet. Kelly begann mit dem ersten Satz Aufklärungsfotos, die von einer RF-101 Voodoo von oben aufgenommen worden waren. Wie bei SENDER GREEN war Song Tay rein zufällig aufgespürt worden, die beiläufige und unerwartete Entdeckung einer Anlage an einem Ort, der eigentlich nur ein kleines militärisches Übungsgelände hätte sein sollen. Doch auf dem Hof des Lagers waren unter den Augen der Wachleute Buchstaben in den weichen Boden gestampft oder mit Steinen oder Wäscheleinen angeordnet worden: »K« für »Kommt und holt uns hier raus« und andere Zeichen. Die Liste derjenigen, die an dem Unternehmen beteiligt
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