01 - Gnadenlos
gewesen waren, las sich wie ein Who's Who der Sondereinheitenelite, Personen, die Kelly nur dem Namen nach kannte.
Er sah gleich, daß die Anordnung des Lagers nicht wesentlich anders war als bei dem, um das es ihm jetzt ging, und machte sich entsprechende Notizen. Ein Dokument überraschte ihn besonders. Es war ein Schreiben von einem General mit drei Sternen an einen mit nur zwei davon, in dem angedeutet wurde, daß das Song-Tay-Unternehmen, obwohl an und für sich wichtig, auch als Mittel zum Zweck dienen sollte. Der Dreisternegeneral hatte prüfen wollen, ob es ihm möglich war, die Entsendung von Sondereinheiten nach Nordvietnam durchzusetzen. Das, so meinte er, würde etliche weitere Optionen eröffnen, zum Beispiel bei einem gewissen Damm mit einem Generatorenraum... Aha, dämmerte es Kelly. Der Dreisterner wollte einen Freibrief, um verschiedene Einheiten ins Land einschleusen zu können und dieselben Spielchen zu treiben, die der militärische Geheimdienst der USA im Zweiten Weltkrieg hinter den deutschen Linien veranstaltet hatte. Das Schreiben schloß mit der Bemerkung, daß der letztere Aspekt von POLAR CIRCLE einem der ersten Decknamen für das, was später Operation KINGPIN hieß - wegen seiner politischen Implikationen äußerst heikel sei. So mancher würde die Aktion als Ausweitung des Krieges betrachten. Kelly hob den Blick von seiner Lektüre und trank den letzten Schluck aus seiner zweiten Tasse Kaffee. Was hatten diese Politiker nur? fragte er sich. Der Feind konnte alles tun, was er wollte, und unsere Seite zitterte ständig davor, daß man sie der Ausweitung des Krieges bezichtigen könnte. Etwas von dieser Haltung hatte er sogar auf seiner Ebene mitbekommen. Das PHOENIXProjekt, mit dem bewußt die politische Infrastruktur des Feindes aufs Korn genommen werden sollte, war eine Angelegenheit von größter Sensibilität. Zum Teufel, dabei trugen sie doch Uniform, oder nicht? Ein Mann, der im Gefechtsgebiet im Kampfanzug herumlief, hielt sich doch an alle Regeln der Kriegsführung, oder? Die andere Seite fischte sich hemmungslos Bürgermeister und Schullehrer in den Dörfern für Strafaktionen raus. Es war einfach unerhört, wie hier mit zweierlei Maß gemessen wurde. Dieser Gedanke war beunruhigend, aber Kelly schob ihn beiseite, als er den zweiten Dokumentenstapel in Angriff nahm.
Die Zusammenstellung der Einheit und die Planung der Operation hatten eine halbe Ewigkeit gedauert. Aber es waren alles gute Männer. Colonel Bull Simons zum Beispiel, von dem Kelly wußte, daß er als einer der härtesten Kommandanten für gezielte Kampfeinsätze galt, den je eine Armee hervorgebracht hatte. Dick Meadows, ein jüngerer Mann von gleichem Schrot und Korn. Sie dachten Tag und Nacht nur daran, wie sie dem Feind schaden und ihn zur Verzweiflung bringen konnten, und entfalteten ihre größte Geschicklichkeit mit kleinen Trupps, die möglichst verdeckt operierten. Wie die nach diesem Einsatz gelechzt haben mußten, dachte Kelly. Aber die Kontrollinstanzen, mit denen sie sich hatten herumschlagen müssen... Kelly zählte zehn verschiedene Schreiben an übergeordnete Stellen, in denen ein erfolgreicher Abschluß versprochen wurde - als könnte ein Papier in der harten Welt der Kampfeinsätze dafür einstehen -, bevor er die Lust verlor, noch weiter zu zählen. Überall war das gleiche zu lesen, bis er den Verdacht schöpfte, daß da irgendein Schreibstubenhengst einen Formbrief ausgeknobelt hatte. Womöglich, weil ihm keine neuen Formulierungen mehr für seinen Colonel eingefallen waren und er mit den immer gleichen Worten ein Ventil zum Ausdruck seiner unmaßgeblich Verachtung für die Gesprächspartner gefunden hatte. Seine Erwartung, daß die Wiederholungen nie auffallen würden, hatte sich vollauf bestätigt. Kelly arbeitete sich drei Stunden lang durch Stapel von Schreiben, die zwischen Eglin und dem CIA hin und her gegangen waren und nur voller Einwände von Korinthenkackern steckten, deren Horizont nicht über ihre Schreibtischkante hinausreichte. Diese »hilfreichen« Vo rschläge von Leuten, die wahrscheinlich mit ihrer Krawatte ins Ben gingen, lenkten die Männer in den grünen Uniformen nur ab. Aber alles mußte von den Einsatzleuten, die mit Waffen umgingen, wieder beantwortet werden... und so war KINGPIN von einem relativ unbedeutenden Einschleusungsunternehmen zu einem filmreifen Epos im Stile von Cecil B. DeMille geworden, das mehr als einmal bis zum Weißen Haus gelangt und den Angehörigen
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