01 - Gnadenlos
des Nationalen Sicherheitsrates vorgelegt worden war...
Es war halb drei Uhr früh, als Kelly abbrach. Vor dem nächsten Stapel Papier gab er sich geschlagen. Er schloß alles in die dafür vorhandenen Fächer ein und joggte zu seinem Zimmer zurück. Zuvor hinterließ er noch einen Zettel mit der Bitte, um sieben Uhr geweckt zu werden.
Es war erstaunlich, mit wie wenig Schlaf er auskam, wenn wichtige Arbeit zu erledigen war. Als um sieben das Telefon klingelte, sprang Kelly aus dem Bett und rannte schon fünfzehn Minuten später barfuß und mit kurzen Hosen am Strand entlang. Er war nicht allein. Er wußte nicht, wie viele Leute in Eglin stationiert waren, aber sie waren alle nicht viel anders als er. Einige mußten zu Sondereinheiten gehören, mit Aufgaben betraut, die er nur erraten konnte. Man erkannte sie an den etwas breiteren Schultern. Das Laufen war nur ein Teil ihres Fitneßprogramms. Ganz automatisch wurden mit Kennermiene abschätzende Blicke ausgetauscht, da jeder Mann wußte, was der andere dachte. Wie zäh ist er wirklich? Lächelnd stellte Kelly fest, daß er soweit Teil der Gemeinschaft war, um mit dieser Art von Konkurrenzneid gewürdigt zu werden. Nach dem ausgiebigen Frühstück und einer Dusche fühlte er sich wieder frisch, jedenfalls frisch genug, um an seine Schreibtischarbeit zu gehen. Auf dem Weg zum Bürogebäude fragte er sich zu seiner eigenen Überraschung, warum er je diese Männergemeinschaft verlassen hatte. Es war schließlich das einzige wirkliche Zuhause gewesen, das er seit dem Weggang von Indianapolis gekannt hatte.
Und so verstrichen die Tage. Kelly genehmigte sich zwei Tage mit sechs Stunden Schlaf, aber nie mehr als zwanzig Minuten für eine Mahlzeit und keinen Tropfen Alkohol seit jenem ersten Bier. Seine Fitneßübungen hingegen nahmen allmählich mehrere Stunden pro Tag in Anspruch, hauptsächlich, so sagte er sich, um sich besser in Form zu bringen. Den wahren Grund gestand er sich selbst nie ganz ein. Er wollte frühmorgens am Strand der härteste Mann sein, nicht bloß ein durchschnittliches Mitglied der kleinen Elitegemeinschaft. Kelly war wieder ein SEAL, ja, eigentlich mehr, er wurde wieder zur Schlange. Am dritten oder vierten Morgen konnte er die Veränderung sehen. Sein Gesicht und seine Gestalt wurden von den anderen nun schon als fester Bestandteil der morgendlichen Übungen erwartet. Die Anonymität kam ihm sehr zustatten, auch was die Kampfnarben betraf, denn da würden sich einige fragen, was Kelly wohl falsch gemacht, welche Fehler er begangen hatte. Dann würden sie sich in Erinnerung rufen, daß er noch immer dabei war, trotz der Narben. Sie wußten ja nicht, daß er den Dienst quittiert hatte - verlassen, verbesserte ihn sein Verstand mit nicht geringem Schuldgefühl.
Der Papierkram war überraschend anregend, Kelly hatte noch nie zuvor derartige Recherchen betrieben und war erstaunt, als er in sich ein Talent dafür entdeckte. Die Eleganz der Operationsplanung, sah er, war durch Zeit und Wiederholung verdorben worden, wie ein schönes Mädchen, das von einem eifersüchtigen Vater zu lange im Haus behalten wird. Jeden Tag war die Nachbildung des Lagers Song Tay von den Akteuren errichtet und jeden Tag - unter Umständen auch mehr als einmal - wieder abgebaut worden, damit sowjetische Aufklärungssatelliten nicht aufzeichnen konnten, was da vor sich ging. Wie das die Soldaten geschwächt haben mußte! Es hatte auch alles zu lange gedauert; während die Soldaten mit ihren Übungen beschäftigt waren, hatten die Vorgesetzten gezaudert und so lange über den Geheimdienstinformationen gebrütet, bis... die Gefangenen verlegt worden waren.
»Verdammt«, flüsterte Kelly vor sich hin. Es lag gar nicht so sehr daran, daß das Unternehmen womöglich verraten worden war. Es war einfach zu sehr verschleppt worden - und das hieß, wenn es überhaupt einen Verrat gegeben hatte, mußte der Informant unter denjenigen zu suchen sein, die erst ganz zum Schluß entdeckt hatten, was im Gange war. Er notierte sich diesen Gedanken mit einem Bleistift und versah ihn mit einem Fragezeichen.
Das Unternehmen selbst war überaus sorgfältig und ohne erkennbare Fehler geplant worden. Es hatte einen ersten Plan sowie eine Anzahl von Alternativen gegeben, und jede Abteilung des Teams war so ausführlich unterwiesen und ausgebildet gewesen, daß ein jeder seine Aufgabe im Schlaf beherrschte. Mit einem großen Sikorsky-Hubschrauber waren sie mitten ins Lager eingefallen, so daß
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