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01 - Gnadenlos

01 - Gnadenlos

Titel: 01 - Gnadenlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Clancy
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geben, aber kaum mehr, und das war ein kalkulierbares Risiko gewesen, schätzte Kelly, als er auf die waldigen Hügel von Nordalabama blickte. Offensichtlich konnte es sich nur um einen Raubüberfall handeln, denn die 1470 Dollar Renommiergeld waren in seiner Tasche verstaut. Es war schließlich Bargeld, und wenn er es nicht an sich genommen hätte, wäre das für die Polizei ein Fingerzeig gewesen, daß es ein ernsteres Motiv als ein so leicht verständliches und angenehm zufälliges gegeben hatte. Der technische Ablauf der Ereignisse
    - er konnte es nicht als Verbrechen sehen - war seiner Einschätzung nach so sauber gewesen, wie es nur hatte sein können.
    Und das Psychologische? fragte sich Kelly. Vor allem hatte Kelly mit dieser Sache seine Nerven testen wollen. Die Beseitigung Pierre Lamarcks war eine Art Feldexperiment gewesen, und dabei hatte er sich selbst überrascht. Es war schon einige Jahre her, seit Kelly zum Kämpfer geworden war, und er hatte schon halb erwartet, daß er danach das große Zittern bekäme. Er hatte so etwas schon mehr als einmal erlebt, doch obwohl er ein wenig weich in den Knien war, als er sich von Lamarcks Leiche entfernte, hatte er sein Entkommen doch mit der gleichen konzentrierten Selbstsicherheit bewerkstelligt, die er auch bei vielen seiner Unternehmungen in Vietnam an den Tag gelegt hatte. Es war ihm so vieles wieder eingefallen. Er konnte die vertrauten Empfindungen einzeln aufzählen, die über ihn gekommen waren, als hätte er einen von ihm selbst gedrehten Übungsfilm angesehen: die erhöhte Wachsamkeit der Sinne, als wäre seine Haut mit einem Sandstrahlgebläse bearbeitet worden, das jeden Nerv bloßgelegt hatte; Gehör, Sehfähigkeit und Geruchssinn waren geschärft. Ich war in dem Augenblick so verdammt lebendig, dachte er. Es war schon irgendwie bedauerlich, daß man so auf den Tod eines Menschen reagierte, doch Lamarck hatte sein Recht auf Leben bereits vor langer Zeit verwirkt. In einem gerechten Universum stand einer Person - Kelly konnte ihn einfach keinen Mann nennen -, die hilflose Mädchen ausbeutete, nicht das Recht zu, die gleiche Luft wie andere Menschen zu atmen. Vielleicht war er vom Weg abgekommen, weil seine Mutter ihn nicht geliebt und sein Vater ihn verprügelt hatte. Vielleicht war er sozial benachteiligt gewesen, war in Armut aufgewachsen und hatte keine ausreichende Schulbildung genossen. Doch das waren Dinge, mit denen sich Psychiater oder Sozialarbeiter herumschlagen sollten. Lamarck hatte sich normal genug verhalten, um in seiner Umgebung zu funktionieren, und die einzige für Kelly erhebliche Frage war die, ob er sein Leben in Einklang mit seinem eigenen freien Willen gelebt hatte oder nicht. Das war eindeutig der Fall gewesen, und diejenigen, die sich nicht anständig aufführten, hatte er schon seit langem entschieden, hätten sich die möglichen Konsequenzen ihrer Verhaltensweise eben vorher überlegen müssen. Jedes Mädchen, das sie ausgebeutet hatten, konnte einen Vater, eine Mutter, eine Schwester, einen Bruder oder einen Geliebten gehabt haben, der auszog, um das an ihr begangene Unrecht zu rächen. Lamarck hatte das gewußt und das Risiko trotzdem auf sich genommen, er hatte also wissentlich mehr oder weniger mit seinem Leben gespielt. Und wer spielt, kann auch mal verlieren, sagte sich Kelly. Wenn Lamarck die Risiken nicht sorgsam genug abgewogen hatte, war das doch nicht Kellys Problem, oder?
    Nein, sagte er dem Boden mehr als zehntausend Meter unter sich.
    Und was empfand Kelly dabei? Er überlegte sich diese Frage eine Weile, lehnte sich zurück und schloß die Augen wie bei einem Nickerchen. Eine leise Stimme, vielleicht das Gewissen, sagte ihm, er müsse doch etwas empfinden, und er suchte nach einer echten Emotion. Aber auch nach einigen Minuten des Nachdenkens konnte er keine finden. Es gab kein Verlustgefühl, keinen Kummer, keine Reue. Lamarck hatte ihm nichts bedeutet und war vermutlich für niemanden ein Verlust. Vielleicht für seine Mädchen - Kelly hatte fünf in der Bar gezählt -, die nun ohne Zuhälter waren, aber vielleicht würde eine von ihnen die Gelegenheit beim Schöpf packen und ihr Leben ändern. Unwahrscheinlich, mag sein, aber möglich. Sein Sinn für die Realität sagte Kelly, daß er nicht alle Probleme dieser Welt lösen konnte; sein Idealismus sagte ihm, daß diese Tatsache ihn deshalb aber noch lange nicht davon abhalten mußte, wenigstens einige der Dinge, die im argen lagen, zu beheben.
    Doch all das

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