01 - Gnadenlos
Wasser zum Trinken hätte mitnehmen sollen. Schön, das ließe sich in Zukunft ändern, und in den nächsten Stunden würde er nichts Flüssiges brauchen. Er hatte daran gedacht, Kaugummi mitzubringen, und das war eine gewisse Erleichterung. Die Straßengeräusche waren merkwürdig. Im Dschungel hatte er das Zirpen der Insekten gehört, die Vogelrufe, das Flattern der Fledermäuse. Hier waren es nahe oder ferne Verkehrsgeräusche, das gelegentliche Quietschen von Bremsen, laute oder leise Gespräche, bellende Hunde, klappernde Mülltonnen. All das registrierte er, während er durch das Fernrohr sah und sich seine nächsten Schritte an diesem Abend überlegte.
Freitag abend, Start ins Wochenende, und die Leute machten ihre Besorgungen. Anscheinend waren die feineren Kunden heute stärker vertreten. Er erkannte einen Dealer eineinhalb Blocks entfernt. Gerade über zwanzig. Nach zwanzig Minuten Beobachtung hatte er sich ein gutes Bild sowohl vom Dealer wie von seinem »Leutnant« gemacht. Beide bewegten sich mit der Unbekümmertheit, die bei Leuten wie ihnen nur lange Erfahrung und Sicherheit mit sich bringen konnte, und Kelly fragte sich, ob sie darum hatten kämpfen müssen, diesen Standort zu ergattern oder auch zu verteidigen. Wahrscheinlich beides. Ihr Geschäft blühte, sie hatten vermutlich Stammkunden, dachte er, als er den beiden Männern zusah, wie sie an einen importierten Wagen herantraten und mit Fahrer und Beifahrer scherzten, bevor der Austausch stattfand. Dann wurden Hände geschüttelt und noch ein bißchen hinterhergewunken. Die beiden waren von etwa gleicher Statur, und Kelly verpaßte ihnen die Namen Archie und Knacki.
Herrgott, wie unbedarft bin ich gewesen, sagte sich Kelly, während er eine andere Straße entlangblickte. Ihm fiel jener Armleuchter bei der 3. Sondereinsatztruppe wieder ein, der beim Marihuanarauchen erwischt worden war - kurz bevor sie ausrücken sollten. Er hatte zu Kellys Trupp gehört, und obwohl er ein absoluter Grünschnabel direkt von der SEALSchule gewesen war, galt das keinesfalls als Entschuldigung. Kelly hatte den Mann zur Rede gestellt und ihm vernünftig, aber bestimmt erklärt, daß jeder, der nicht hundertprozentig klar im Kopf ins Gefecht zog, der ganzen Tr uppe den Tod bringen konnte. »He, Mann, das ist cool, ich weiß, was ich tu«, hatte Kelly als nicht gerade intelligente Erwiderung zu hören bekommen, und dreißig Sekunden später sah sich ein anderes Mitglied des Trupps veranlaßt, Kelly von dem auf der Stelle entlassenen Teammitglied zu trennen, das am nächsten Tag auf Nimmerwiedersehen verschwand.
Und das war auch der einzige Drogenzwischenfall in der gesamten Einheit gewesen, soweit Kelly wußte. Sicher, außer Dienst dröhnten sie sich voll, und als Kelly mit zwei anderen nach Taiwan zum Ausspannen geflogen war, hatten sie nach ihren gemeinsamen Trinkgelagen eine wahre Erdbebenschneise der Verwüstung hinterlassen. Kelly glaubte allen Ernstes, daß das etwas ganz anderes war. Er war sich nicht bewußt, daß er hier eindeutig zweierlei Maß anlegte. Aber sie tranken ja auch kein Bier, bevor sie in den Dschungel vorrückten. Das war allein schon eine Frage des gesunden Menschenverstands. Und außerdem ging es dabei auch um die Kampfmoral der Einheit. Kelly kannte keine echte Elitetruppe, bei der es je Drogenprobleme gegeben hatte. Das Problem - ein wirklich ernsthaftes, hatte er gehört - lag hauptsächlich bei den Etappenhengsten und den Einheiten mit den Wehrpflichtigen, die aus jungen Männern bestanden, die noch unwilliger nach Vietnam gegangen waren als er selber, und deren Offiziere es auch nicht geschafft hatten, das Problem zu bewältigen, entweder wegen ihrer eigenen Fehler oder weil sie so ziemlich die gleiche Einstellung wie ihre Untergebenen hatten,
Was auch immer der Grund war, die Tatsache, daß Kelly kaum je über das Drogenproblem nachgedacht hatte, war sowohl logisch wie absurd. Er schob das alles beiseite. Egal, wie spät ihm die Wahrheit aufgegangen war, hier jedenfalls hatte er sie direkt vor Augen.
In einer anderen Straße war ein auf sich allein gestellter Dealer, der wohl keinen Leutnant wollte, brauchte oder hatte. Er trug ein gestreiftes Hemd und hatte seine eigene Kundschaft. Kelly gab ihm den Namen Charlie Brown. Während der nächsten fünf Stunden erkannte und klassifizierte er drei weitere Dealergruppen in seinem Blickfeld. Dann begann der Ausleseprozeß. Archie und Knacki schienen das größte Geschäft zu machen, aber
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