01 - Gnadenlos
dafür. Dort oben zu sein, ganz allein, genauso wie beim Langlaufen in den Wäldern als Kind - nur besser. An einem klaren Wintertag kannst du so weit sehen.« Er hielt Zacharias wieder die Flasche hin. »Meinst du, diese kleinen Wilden würden das verstehen?«
»Wahrscheinlich nicht.« Er schwankte einen Augenblick. Ach was, er hatte ja schon einen Schluck genommen. Da konnte einer mehr auch nicht schaden, oder? Und Zacharias setzte die Flasche wieder an.
»Weißt du, wie ich es mache, Robin? Ich halte den Knüppel nur mit den Fingerspitzen, so.« Er führte es an der Flaschenöffnung vor. »Ich schließe einen Moment die Augen, und wenn ich sie wieder aufmache, ist die Welt ganz anders. Dann bin ich kein Teil dieser Welt mehr. Ich bin jemand anderes - ein Engel vielleicht«, sagte er gutgelaunt. »Dann nehme ich den Himmel in Besitz, wie ich gerne eine Frau in Besitz nehmen würde, aber es ist nie ganz das gleiche. Die besten Gefühle hat jeder wohl allein, denke ich.«
Der Kerl versteht es wirklich. Er hat voll erfaßt, was Fliegen ist.
»Bist du so was wie ein Dichter?«
»Ich liebe Poesie. Ich habe nicht genug Talent um selbst Gedichte zu schreiben, aber das hindert mich nicht, sie zu lesen und auswendig zu lernen, zu spüren, was der Dichter mir für Gefühle vermitteln will«, sagte Grischanow leise und meinte diesmal tatsächlich, was er sagte, während er zusah, wie der Blick des Amerikaners sich langsam trübte und einen träumerischen Ausdruck annahm. »Wir sind uns sehr ähnlich, mein Freund.«
»Was war denn nun mit Ju-Ju?« fragte Tucker.
»Sieht so aus, als hätte man ihn ausgenommen. Er ist un vorsichtig geworden. Einer von Ihren Leuten, was?« fragte Charon.
»Ja, hat 'ne Menge für uns umgesetzt.«
»Und wer war's?« Sie standen in der Zentrale der EnochPratt-Bücherei, unbemerkt irgendwo zwischen den Regalen, wirklich ein idealer Ort. Absolut abhörsicher, und außerdem konnte ihnen kaum jemand zu nahe kommen, ohne daß man ihn schon von weitem hörte. Obwohl hier große Stille herrschte, gab es einfach zu viele von diesen kleinen Nischen.
»Läßt sich nicht sagen, Henry. Ryan und Douglas waren da, und es hat mir nicht so ausgesehen, als hätten sie viel in der Hand. He, wollen Sie sich etwa wegen eines einzigen kleinen Dealers aufregen?«
»Das wissen Sie doch besser, aber es stört den Ablauf. Bisher ist von meinen Leuten noch keiner hops gegangen.« »Das sollten Sie nun aber besser wissen, Henry.« Charon blätterte einige Seiten durch. »Es ist ein Geschäft mit hohem Risiko. Jemand hat ein bißchen Geld gebraucht, vielleicht auch ein paar Drogen, wollte womöglich auf die schnelle Tour ins Geschäft einsteigen? Sehen Sie sich doch nach einem neuen Dealer um, der Ihren Stoff verkauft. Zum Teufel, Mann, so gut wie die die Sache durchgeführt haben, können Sie vielleicht sogar mit denen zu einer Verständigung kommen.«
»Ich habe genug Dealer. Und es ist schlecht fürs Geschäft, auf die Art Frieden zu schließen. Wie haben sie es denn gemacht?«
»Sehr professionell. Jeder zwei in den Kopf. Douglas meinte, es könnte vielleicht eine bandeninterne Strafaktion sein.«
Tuckers Kopf schnellte herum. »So?«
Charon sprach ruhig und drehte seinem Gesprächspartner den Rücken zu. »Henry, das war nicht die Familie. Tony würde doch so was nicht machen, oder?«
»Wahrscheinlich nicht.« Aber Eddie vielleicht.
»Ich brauche etwas«, sagte Charon als nächstes.
»Was?«
»Einen Dealer. Was haben Sie erwartet, einen Tip fürs zweite Rennen in Pimlico?«
»Zu viele von denen unterstehen mir, denken Sie daran.«
Es war schon ganz okay gewesen - eigentlich viel mehr als das -, Charon zu benützen, um die Hauptkonkurrenten auszuschalten, aber nachdem Tucker seine Vorherrschaft im örtlichen Handel gefestigt hatte, gab es immer weniger unabhängige Geschäftemacher, die er den Vertretern des öffentlichen Rechts zum Fraß vorwerfen konnte. Er hatte sich systematisch Leute herausgepickt, mit denen er nicht zusammenarbeiten wollte, und die wenigen, die übriggeblieben waren, taugten eher zu nützlichen Verbündeten als zu Rivalen, wenn er nur einen Weg finden könnte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
»Henry, wenn Sie wollen, daß ich Sie beschütze, dann brauche ich die Kontrolle über die Ermittlungen. Und dafür muß ich von Zeit zu Zeit einen großen Fisch an Land ziehen.« Charon stellte das Buch wieder ins Regal. Warum mußte er dem Mann solche
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