01 - Gnadenlos
muß die einen vor den anderen schützen. Das habe ich getan.«
»Aber wie können Sie verhindern, einer von denen zu werden?«
Kelly erwog diese Frage sorgfältig, schon bedauerte er, daß Sandy überhaupt hier war. Er brauchte das nicht anzuhören, wollte nicht sein eigenes Gewissen erforschen müssen. Alles war in den vergangenen Tagen so klar gewesen. Sobald er einmal entschieden hatte, daß es einen Feind gab, bestand alles Weitere nur noch darin, seine Ausbildung und Erfahrung umzusetzen. Nichts, worüber er nachdenken mußte. Aber die Erforschung des eigenen Gewissens war nicht so einfach, oder?
»Das Problem hat sich mir nie gestellt«, antwortete er ausweichend. Aber plötzlich erkannte er den Unterschied. Sandy und ihre Zunft kämpften gegen eine Sache. Unermüdlich und tapfer setzten sie ihre Gesundheit aufs Spiel und geboten dem Wirken von Kräften Einhalt, deren grundlegende Ursachen sie nicht angreifen konnten. Kelly und seinesgleichen aber kämpften gegen Menschen. Um die Taten ihrer Feinde mochten sich andere kümmern, sie aber konnten ihre Beute aufspüren und angreifen, ja, sie konnten sie sogar töten, wenn sie Glück hatten. Die einen hatten die lautersten Absichten, aber die Genugtuung war ihnen versagt. Die anderen bekamen zwar die Genugtuung, den Feind vernichtet zu haben, aber der Preis dafür war, daß sie sich dem, wogegen sie ankämpften, allzusehr angleichen mußten. Krieger und Heiler, zwei nebeneinander her geführte Kriege, auf beiden Seiten die gleichen Absichten, aber welch ein Unterschied in der Vorgehensweise. Krankheiten des Körpers und Krankheiten der Menschheit selbst. War das nicht ein interessanter Gesichtspunkt?
»Vielleicht ist es so: Es geht nicht darum, gegen was man kämpft, sondern darum, wofür.«
»Wofür kämpfen wir in Vietnam?« wollte Sandy diesmal von Kelly wissen, nachdem sie sich diese Frage seit dem Erhalt des unseligen Telegramms mindestens zehnmal pro Tag gestellt hatte. »Mein Mann ist dort gestorben, und ich verstehe immer noch nicht warum.«
Kelly wollte etwas sagen, hielt sich aber zurück. Eigentlich gab es keine Antwort. Pech, falsche Entscheidungen, ungünstige zeitliche Umstände auf mehr als einer Handlungsebene schufen die Zufallsereignisse, die Soldaten auf einem fernen Schlachtfeld den Tod brachten, und selbst für diejenigen, die drüben waren, ergab es nicht immer einen Sinn. Außerdem hatte sie wahrscheinlich von dem Mann, dessen Tod sie betrauerte, schon jede Rechtfertigung mehr als einmal gehört. Vielleicht war die Suche nach dieser Art von Bedeutung zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Vielleicht sollte es gar keinen Sinn ergeben. Und wenn das nun tatsächlich zutraf, wie konnte man leben, ohne sich vorzumachen, daß es irgendwie doch so war? Er grübelte noch immer darüber nach, als er in ihre Straße einbog.
»Ihr Haus bräuchte mal einen Anstrich«, sagte Kelly und war froh, daß es so war.
»Ich weiß. Aber ich kann mir keinen Maler leisten, und selber habe ich nicht die Zeit dazu.«
»Sandy - ein Vorschlag?«
»Der wäre?«
»Fangen Sie wieder an zu leben. Es tut mir leid, daß Tim nicht mehr da ist, aber es ist nun mal so, und Sie sind noch da. Ich hab dort drüben auch Freunde verloren. Sie müssen weitermachen.«
Es tat weh, die Erschöpfung in ihrem Gesicht zu sehen. Ihr Blick musterte ihn irgendwie berufsmäßig, er enthüllte nichts von ihren Gedanken oder Gefühlen, aber allein schon, daß sie sich bemühte, sich vor ihm zu verstellen, war für Kelly Information genug.
Etwas hat sich in dir verändert. Ich frage mich, was. Und ich wüßte gern, warum, dachte Sandy. Irgend etwas war anders geworden. Er war immer höflich gewesen, beinahe komisch in seiner überwältigenden Zuvorkommenheit, aber die Trauer, die sie gesehen hatte, beinahe so groß wie ihr immerwährender Kummer, war jetzt verschwunden, ersetzt durch etwas, das sie nicht ganz ergründen konnte. Es war sonderbar, weil er sich nie bemüht hatte, sich vor ihr zu verbergen, und sie hielt sich eigentlich für fähig, jede von ihm angelegte Tarnung zu durchschauen. Das war ein Irrtum, oder vielleicht kannte sie nur die Regeln nicht. Sie sah zu, wie er ausstieg, um den Wagen herumlief und ihr die Tür aufmachte.
»Gnädigste?« Er wies auf das Haus.
»Warum sind Sie so nett? Hat Doktor Rosen...?«
»Er hat nur gesagt, ich soll Sie mitnehmen, Sandy, ehrlich. Außerdem sehen Sie schrecklich müde aus.« Kelly begleitete sie zur Haustür.
»Ich weiß gar
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