01 - Gnadenlos
zu treffen, aber -« Sie führte den Satz nicht zu Ende.
Kelly hätte am liebsten über den Tisch nach ihrer Hand gegriffen, um sie zu trösten, aber er fürchtete, das könnte als Annäherungsversuch ausgelegt werden, »Ich weiß, Sandy. Haben Sie noch weitere Rezepte auf Lager?«
»O ja, viele, Nancy hat ein paar Monate bei mir gewohnt und ich habe in der Zeit immer unter ihrer Aufsicht gekocht. Sie ist eine wunderbare Lehrerin.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Kelly kratzte seinen Teller leer. »Wie sieht normalerweise Ihr Tagesablauf aus?«
»Gewöhnlich stehe ich um Viertel nach fünf auf, weil ich schon kurz nach sechs losfahren muß. Ich bin gern eine halbe Stunde vor Schichtwechsel in der Klinik. So kann ich mich über den Zustand der Patienten informieren, bevor ich mich auf die neuen vorbereite, die aus dem OP kommen. Dort geht es oft ziemlich hektisch zu. Und was ist mit Ihnen?«
»Das hängt von meinen Aufträgen ab. Wenn ich was zu schießen habe... «
»Schießen?« fragte Sandy überrascht.
»Sprengstoff. Das ist meine Spezialität. Man verbringt einen Haufen Zeit mit der Planung und Anordnung. Dabei stehen mir dann meistens noch ein paar Ingenieure im Weg, die mir ihre Ängste und Befürchtungen vorjammern und mir sagen, was ich tun soll. Die vergessen immer, daß es viel leichter ist, etwas in die Luft zu sprengen, als es zu bauen. Ich habe dabei ein Markenzeichen.«
»Und was ist das?«
»Wenn ich unter Wasser arbeite, lasse ich ein paar Minuten vor der richtigen Sprengung einige kleinere Kapseln hochgehen.« Kelly lachte in sich hinein. »Um die Fische zu verscheuchen.«
Sie brauchte einen Moment, um es zu begreifen. »Ach so - damit sie nicht verletzt werden?«
»Genau. Das ist so ein Tick von mir.«
Schon wieder so eine Sache. Im Krieg brachte er Menschen um, drohte einem Chirurgen vor den Augen des Sicherheitsbeamten mit einer dauerhaften Verletzung, doch er riß sich beide Beine aus, damit keine Fische getötet wurden! »Sie sind mir ein Rätsel.«
Er war so anständig zu nicken. »Ich töte nicht zum Spaß.
Früher bin ich zur Jagd gegangen, aber das habe ich aufgegeben. Manchmal gehe ich fischen, aber nicht mit Dynamit.
Die Kapseln werden ein ganzes Stück von der eigentlichen Explosionsstelle entfernt gezündet - damit sie den Sprengsatz nicht gleich mit hochgehen lassen. Die Fische werden hauptsächlich vom Knall vertrieben. Warum soll man gute Fische verschwenden?«
Es lief ganz automatisch ab. Doris war ein wenig kurzsichtig. Und unter dem Wasserschleier vor ihren Augen sahen die Male zunächst wie Schmutzflecken aus. Aber sie waren kein Schmutz, ließen sich nicht abwaschen. Eigentlich hatte sie immer welche, nur an unterschiedlichen Stellen, je nach den Vorlieben der Männer, die sie ihr beibrachten. Sie rieb mit den Händen über die Flecken, und der Schmerz machte ihr deutlich, was sie waren, Andenken an die letzten Partys. Damit waren auch ihre Versuche, sich zu säubern, zum Scheitern verurteilt. Sie würde sich nie wieder sauber fühlen. Die Dusche half lediglich gegen den Geruch. Selbst Rick hatte ihr das unmißverständlich klargemacht, und der war noch immer der harmloseste von allen, dachte Doris, als sie ein blasses braunes Mal entdeckte, das von ihm stammte. Es tat nicht ganz so weh wie die Verletzungen, an denen Billy seinen Spaß hatte.
Sie begann sich abzutrocknen. Die Dusche war als einziger Teil des Raumes wenigstens ansatzweise sauber. Niemand machte sich die Mühe, das Waschbecken oder die Toilette zu putzen, und der Spiegel hatte einen Sprung.
»So ist's besser«, sagte Rick, der sie beobachtete. Er streckte die Hand aus und gab ihr eine Pille.
»Danke.« So begann ein weiterer Tag, mit einem Barbiturat, das einen Abstand zwischen ihr und der Realität schaffen sollte, ihr das Leben, wenn schon nicht angenehm, so doch zumindest erträglich machte. Ihre kleinen Helfer, die dafür sorgten, daß sie die Realität ertragen konnte, die sie ihr geschaffen hatten. Doris spülte die Pille mit ein wenig Wasser aus der hohlen Hand hinunter und hoffte, daß die Wirkung rasch einsetzen würde. Dadurch wurde das Leben leichter, die Kanten weniger scharf, sie konnte einen Abstand schaffen zwischen sich und ihrem wahren Selbst. Früher war dieser Abstand so groß gewesen, daß sie nicht auf die andere Seite sehen konnte, doch das hatte sich geändert. Sie blickte in Ricks lächelndes Gesicht, das sich schon wieder über sie schob.
»Du
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