01 - Gnadenlos
Augen auf. »Warum tun Sie das für mich?«
Die Antwort war leicht. »Ich bin Krankenschwester, Miss Brown. Es ist mein Beruf, Kranke zu pflegen.«
»Billy und Rick«, sagte sie dann, als sie ihr wieder einfielen. Erinnern war für Doris eine veränderliche und flüchtige Angelegenheit weil sie sich hauptsächlich an Schmerz erinnerte.
»Die sind nicht hier«, versicherte ihr O'Toole. Sie schwieg, bevor sie fortfuhr, und war überrascht, bei den folgenden Worten Genugtuung zu empfinden. »Ich glaube nicht, daß sie Sie wieder belästigen werden.« In den Augen der Patientin war fast so etwas wie Verstehen zu erkennen. Fast. Das war ermutigend.
»Ich muß mal. Bitte... « Sie bewegte sich, und da erst spürte sie die Gurte.
»Okay, einen Augenblick.« Sandy löste die Gurte. »Meinen Sie, Sie können heute schon aufstehen?«
»Ich versuch's«, ächzte Doris. Sie richtete sich etwa um dreißig Grad auf, bevor ihr Körper sie im Stich ließ. Sandy half ihr beim Aufsetzen, doch das Mädchen schaffte es schon kaum, den Kopf gerade auf den Schultern zu halten. Sie aufzustellen war sogar noch schwieriger, aber zum Badezimmer war es nicht so weit, und die innere Befriedigung, es bis dorthin geschafft zu haben, war für die Patientin den Schmerz und die Anstrengung wert. Sandy setzte sie hin und hielt ihre Hand. Sie nutzte die Zeit einen Waschlappen anzufeuchten und ihr erneut das Gesicht abzuwischen.
»Wir machen ja schon Fortschritte«, bemerkte Sarah Rosen von der Tür her. Sandy drehte sich um und lächelte, womit sie die Verfassung der Patientin kundtat. Sie legten ihr einen Morgenrock um, bevor sie sie wieder ins Zimmer brachten. Sandy wechselte noch die Bettwäsche, während Sarah der Patientin eine Tasse Tee einflößte.
»Sie sehen heute viel besser aus, Doris«, sagte die Ärztin, während sie ihr beim Trinken zusah.
»Ich fühle mich entsetzlich.«
»Das muß so sein, Doris. Sie müssen sich entsetzlich fühlen, bevor es Ihnen wieder bessergeht. Gestern haben Sie so gut wie gar nichts gespürt. Meinen Sie, Sie bringen schon einen Toast hinunter?«
»So hungrig.«
»Noch ein gutes Zeichen«, bemerkte Sandy. Der Ausdruck in Doris' Augen war so schlimm, daß Ärztin wie Schwester die hämmernden Kopfschmerzen geradezu fühlen konnten. Aber sie würden dennoch nur einen Eisbeutel zur Linderung auflegen. Eine Woche lang hatten sie Doris' Organismus das Gift entzogen, da war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, ihr neue Drogen einzuflößen, »Legen Sie den Kopf zurück.«
Doris gehorchte und ließ ihren Kopf auf die Rückenlehne des prall gepolsterten Sessels sinken, den Sandy einmal auf einem privaten Flohmarkt erstanden hatte. Ihre Augen waren geschlossen, und sie war so wackelig in den Gliedern, daß ihre Arme kraftlos auf dem Stoffbezug liegenblieben, während Sarah ihr die einzelnen Happen Toast verabreichte. Die Schwester holte eine Bürste und widmete sich dem Haar der Patientin. Es war verfilzt und mußte gewaschen werden, aber, dachte Sandy, wenn es wenigstens einmal glatt durchgebürstet wurde, war das auch schon etwas. Patienten gaben sich erstaunlich viel Mühe mit ihrem Erscheinungsbild, und so sonderbar und unlogisch das auch klingen mochte, es war eine Tatsache und deswegen etwas, das Sandy als wichtig erachtete. Sie war etwas überrascht, als Doris unter ihrer Behandlung zu zittern anfing.
»Bin ich noch am Leben?« Die zitternde Angst in dieser Frage war bestürzend.
»Und wie«, antwortete Sarah, die beinahe lächeln mußte, weil sie da ja nun doch ein wenig übertrieb. Sie prüfte den Blutdruck. »Einszweiundzwanzig zu achtundsiebzig.«
»Ausgezeichnet!« bemerkte Sandy. Das war der beste Wert der ganzen Woche.
»Pam... «
»Wie bitte?« fragte Sarah.
Doris brauchte eine Weile, denn sie beschäftigte sich immer noch mit der Frage, ob dies denn nun das Leben oder der Tod war, und falls letzteres, in welchem Teil der Ewigkeit sie wohl gelandet war. »Ihr Haar... als sie tot war... hab es gebürstet.«
Lieber Gott, dachte Sarah. Sam hatte diese Einzelheit aus dem Obduktionsbericht erwähnt, während er bei ihnen zu Hause in Green Spring Valley trübsinnig an einem Highball genippt hatte. Mehr hatte er nicht dazu gesagt. Das war auch nicht nötig gewesen. Das Foto auf dem Titelblatt der Zeitung hatte genügt. Dr. Rosen berührte das Gesicht der Patientin, so sanft sie konnte.
»Doris, wer hat Pam umgebracht?« Sie dachte, daß sie das fragen konnte, ohne der Patientin weiteren Schmerz
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