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01 - Gnadenlos

01 - Gnadenlos

Titel: 01 - Gnadenlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Clancy
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großen Schritte sein. Sie müssen nur in die richtige Richtung führen. Ärztin und Schwester warfen sich einen Blick zu.
    Es gab nichts Vergleichbares. Für jemanden, der nie dabeigewesen war und daran mitgewirkt hatte, war es nur schwer nachvollziehbar. Sandy und sie hatten ins Grab gegriffen und dieses Mädchen der Erde entzogen, die es verschlingen wollte. Drei Monate noch, hatte Sarah geschätzt, vielleicht auch weniger, und ihr Körper wäre so geschwächt gewesen, daß die geringfügigste Beeinträchtigung von außen ihrem Leben in wenigen Stunden ein Ende gesetzt hätte. Aber das war vorbei. Dieses Mädchen würde leben, und die Krankenschwester und die Ärztin teilten ohne Worte das Gefühl, das Gott verspürt haben mußte, als er Adam Leben einhauchte. Sie hatten den Tod in die Flucht geschlagen und das Geschenk wiedergewonnen, das allein Gott geben konnte. Dabei hatten sie sich auf ihre berufliche Qualifikation gestützt, und Momente wie dieser entschädigten sie für all die Wut, die Sorge und die Trauer, die sie verspürten, wenn sie einen Patienten nicht retten konnten.
    »Essen Sie nicht zu schnell, Doris. Wenn man eine Zeitlang nichts ißt, schrumpft der Magen ein wenig zusammen«, erklärte ihr Sarah, wieder in ihrer Rolle als Ärztin. Es hatte keinen Sinn, Doris vor den Problemen und Schmerzen zu warnen, die in Kürze in ihrem Verdauungstrakt eintreten würden. Das ließ sich nicht vermeiden, und daß sie überhaupt Nahrung zu sich nahm, überwog im Augenblick alle Bedenken.
    »Ja gut. Ich bin sowieso beinahe satt.«
    »Dann ruhen Sie sich ein wenig aus. Erzählen Sie uns von Ihrem Vater.«
    »Ich bin ausgerissen«, antwortete Doris wie aus der Pistole geschossen. »Damals, als David... als das Telegramm kam und Daddy... Daddy hatte Probleme und gab mir die Schuld.«
    Raymond Brown war Vorarbeiter am Hochofen Drei der Jones and Laughlin Steel Company, und das war alles, was ihm geblieben war. Sein Haus, eines der vielen freistehenden Fachwerkgebäude aus der Jahrhundertwende mit Holzschindeln, die, je nach Härte des Winters, alle zwei oder drei Jahre gestrichen werden mußten, lag an der Dunleavy Street auf halber Höhe eines der steilen Berge der Stadt. Er hatte die Nachtschichten übernommen, weil ihm nachts sein Haus ganz besonders leer vorkam. Nie mehr hörte er die Stimme seiner Frau, nie mußte er seinen Sohn zum Baseballtraining der Juniorenmannschaft fahren oder mit ihm auf dem abschüssigen engen kleinen Hof Fangen spielen, sich nie mehr um die Verabredungen seiner Tochter am Wochenende Gedanken machen.
    Er hatte alles Menschenmögliche versucht, aber erst, als es zu spät war. Ganz so, wie es meistens lief auf dieser Welt. Es war einfach zuviel für ihn gewesen. Erst hatte seine Frau, sein bester und engster Freund, mit siebenunddreißig, also noch in recht jungen Jahren, den Knoten in der Brust entdeckt. Nach der Operation hatte er ihr so gut er konnte beigestanden, doch dann kam ein neuer Knoten, eine weitere Operation, medikamentöse Behandlung. Mit ihr ging es abwärts, und er mußte bis zum Ende stark bleiben. Allein das wäre für jeden Mann schon eine furchtbare Belastung gewesen, doch dann kam der nächste Schlag. David, sein einziger Sohn, wurde eingezogen, kam nach Vietnam und fiel nur zwei Monate später in einem namenlosen Tal. Der Beistand seiner Arbeitskollegen, die alle zu Davids Begräbnis gekommen waren, hatte ihn nicht davon abhalten können, in seiner Verzweiflung seinen letzten Halt an der Flasche zu suchen und das war sein Verhängnis. Raymond war entgangen, daß auch Doris mit ihrer Trauer nicht fertig wurde, und als sie eines Abends spät nach Hause kam, in Kleidern, die nicht seinem Geschmack entsprachen, hatte er grausame und gemeine Dinge zu ihr gesagt. Er erinnerte sich an jedes einzelne Wort, das gefallen war, bis sie die Haustür hinter sich zugeknallt hatte.
    Erst einen Tag später war er wieder zu Verstand gekommen, war mit Tränen in den Augen zur Polizeiwache gefahren und hatte sich vor den Männern angeklagt, die ihn besser verstanden und mehr Mitgefühl für ihn aufbrachten, als er glaubte. Er sehnte sein kleines Mädchen herbei wollte sie um Verzeihung bitten, etwas, was er selbst sich niemals gewähren konnte. Doch Doris war verschwunden. Die Polizei hatte getan, was sie konnte, und das war nicht viel. Die nächsten beiden Jahre suchte er seinen Lebensinhalt in der Flasche, bis eines Tages dann zwei Arbeitskollegen ihn sich vorknöpften. Sie redeten

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