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01 - Gnadenlos

01 - Gnadenlos

Titel: 01 - Gnadenlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Clancy
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mit ihm, wie Freunde es tun, nachdem sie sich überwunden hatten, in die Privatsphäre eines anderen Mannes einzudringen. Inzwischen stattete der Gemeindepfarrer seinem einsamen Haus regelmäßige Besuche ab. Und Raymond Brown kam allmählich von der Flasche los - zwar trank er noch, doch nicht mehr bis zum Exzeß, und er hatte sich zum Ziel gesetzt, es ganz aufzugeben. Er mußte es wagen, seiner Einsamkeit nüchtern ins Auge zu sehen und damit fertig zu werden, so gut er konnte. Zwar machte es sich nicht bezahlt, wenn er in seinem Alleinsein die Würde bewahrte, es war leer, doch mehr hatte er nicht, an dem er sich noch festhalten konnte. Manchmal halfen auch seine Gebete, und wenn die immer gleichen Worte auch nicht den Tr aum verwirklichen konnten, daß seine Familie wie einst mit ihm in diesem Haus lebte, so fand er danach wenigstens hin und wieder Schlaf. Schweißnaß drehte und wendete er sich in seinem Bett, als das Telefon klingelte.
    »Hallo?«
    »Hallo, spricht dort Raymond Brown?«
    »Ja, und wer sind Sie?« fragte er, ohne die Augen zu öffnen.
    »Ich heiße Sarah Rosen. Ich bin Ärztin an der Johns-Hopkins-Klinik in Baltimore.«
    »Ja, und?« Der Ton in ihrer Stimme ließ ihn hellwach werden. Er starrte an die Decke, an die leere weiße Flache, die so gut zu seinem jetzigen Leben paßte. Und plötzlich packte ihn die Angst. Warum rief ihn eine Ärztin aus Baltimore an? Eine schreckliche Ahnung, die nur einen Namen hatte, stieg in ihm auf, doch die Stimme fuhr hastig fort.
    »Hier ist jemand, der mit Ihnen sprechen möchte.«
    »Ja?« Dann hörte er gedämpfte Laute, die von Störungen in der Leitung herstammen konnten. Aber das taten sie nicht.
    »Ich kann nicht.«
    »Sie haben nichts zu verlieren, Liebes«, sagte Sarah, als sie
    ihr den Hörer reichte. »Er ist Ihr Vater. Vertrauen Sie ihm.« Doris nahm den Hörer und hielt ihn mit beiden Händen vors Gesicht. Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
    »Daddy?«
    Hunderte von Kilometern entfernt hallte das geflüsterte Wort nach wie eine Kirchenglocke. Er mußte dreimal tief durchatmen, bevor er überhaupt einen Ton herausbrachte. Und der klang wie ein Schluchzen.
    »Doris.«
    »Ja - Daddy, es tut mir leid.«
    »Bist du gesund, Kleines?«
    »Ja, Daddy, es geht mir gut.« So widersinnig das auch scheinen mochte - gelogen war es nicht.
    »Wo bist du?«
    »Warte mal kurz.« Die andere Stimme meldete sich. »Mr. Brown, hier spricht wieder Dr. Rosen.«
    »Ist sie bei Ihnen?«
    »Ja, Mr. Brown. Wir haben sie seit einer Woche in Behandlung. Sie ist krank, aber auf dem Wege der Besserung. Haben Sie verstanden? Sie wird wieder gesund.«
    Brown faßte sich an die Brust. Sein Herz wurde wie von einer Stahlfaust umklammert, und sein Atem kam in schmerzvollen Stößen, die manchen Arzt in die Irre geführt hätten.
    »Geht es ihr gut?« fragte er besorgt.
    »Es kommt alles wieder in Ordnung«, versicherte ihm Sarah. »Daran besteht kein Zweifel, Mr. Brown. Das müssen Sie mir glauben.«
    »O Herr im Himmel! Wo sind Sie?«
    »Mr. Brown, im Augenblick können Sie sie noch nicht sehen. Wir bringen Ihre Tochter nach Hause, sobald sie sich völlig erholt hat. Ich war eigentlich nicht ganz damit einverstanden, daß wir Sie anrufen, bevor Sie sich treffen können aber dann haben wir es nicht übers Herz gebracht noch länger zu warten. Ich hoffe. Sie können das verstehen.«
    Es dauerte zwei Minuten, bevor Sarah wieder etwas verstehen konnte, doch die Laute, die sie über die Leitung hörte, rührten sie bis ins Innerste. Mit ihrem Griff ins Grab hatte sie zwei Leben gerettet.
    »Ist wirklich alles in Ordnung mit ihr?«
    »Sie hat schlimme Zeiten durchgemacht, Mr. Brown, aber ich kann Ihnen versichern, daß sie wieder ganz gesund wird. Ich verstehe was von meinem Fach und würde das nicht sagen, wenn es nicht wahr wäre.«
    »Ach, bitte, lassen Sie mich doch noch mal mit ihr sprechen, ja?«
    Sarah reichte den Hörer weiter, und kurz darauf weinten vier Menschen. Am glücklichsten waren Krankenschwester und Ärztin; sie fielen sich in die Arme und genossen ihren Sieg über die Grausamkeiten des Lebens.
    Bob Ritter fuhr mit seinem Wagen auf einen Parkplatz am West Executive Drive, der früheren Durchgangsstraße und jetzigen Sackgasse zwischen dem Weißen Haus und dem Executive Office Building. Dann ging er auf das Gebäude zu, das wohl häßlichste Bauwerk in Washington - was schon etwas heißen wollte -, das früher einen Großteil der Staatsbehörden beherbergt hatte,

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