01 - Gnadenlos
Er hatte immer noch nicht genug in der Hand, um damit zum Richter zu gehen. Derartige Angelegenheiten wurden in der Regel aus Gefälligkeit erledigt und nicht aufgrund irgendwelcher Vorschriften.
»Danke, ich versuche es später noch mal.«
»Schönen Tag noch.« Mit dieser Floskel wurde eine weitere Banalität im Alltag einer Archivbeamtin einfach vom Tisch gewischt.
Außer Haus. Warum? Wer hatte sie jetzt? Und was zum Teufel war so Besonderes an dem Fall? Aber Ryan wußte, daß dieser Fall viele Besonderheiten hatte. Und er fragte sich, ob er sie überhaupt schon alle kannte.
»Das haben sie mit ihr gemacht«, erklärte ihnen Kelly. Zum erstenmal sprach er darüber mit Fremden, und als er die Einzelheiten aus dem Bericht des Pathologen aufzählte, kam es ihm vor, als hörte er die Stimme eines anderen reden, »Wegen ihrer Vergangenheit hat die Polizei den Fall nie besonders ernst genommen. Ich habe dann noch zwei andere Mädchen rausgeholt. Eine wurde umgebracht. Und die andere... « Er wies auf die Zeitung.
»Warum haben Sie sie überhaupt freigelassen?«
»Hätte ich sie umbringen sollen, Mr. Ritter? Das ist es, was die anderen vorhatten.« Kelly blickte immer noch auf den Boden. »Sie war mehr oder weniger nüchtern, als ich sie gehen ließ. Zu etwas anderem hatte ich keine Zeit. Aber da habe ich mich wohl verschätzt.«
»Wie viele?«
»Zwölf, Sir.« Kelly wußte, daß Ritter nach der Anzahl der Morde gefragt hatte.
»Guter Gott!« meinte Ritter. Im Grunde hätte er am liebsten gelächelt. Es hatte schon Überlegungen gegeben, ob der CIA in den Kampf gegen den Drogenhandel eingespannt werden sollte. Er selbst hatte sich dagegen ausgesprochen - dies war nicht so bedeutend, als daß man deswegen Leute von ihrer eigentlichen Aufgabe, das Land vor Bedrohungen der nationalen Sicherheit zu schützen, hätte abziehen können. Doch er durfte nicht lächeln, dazu war die Angelegenheit zu ernst. »In dem Artikel heißt es, es waren zwanzig Kilogramm Stoff. Stimmt das?«
»Möglicherweise.« Kelly zuckte die Achseln. »Ich habe ihn nicht gewogen. Da ist noch etwas anderes. Ich glaube, ich weiß, wie die Drogen ins Land kommen. Die Tüten stinken nach - Leichenkonservierungsmittel. Und das Heroin stammt aus Asien.«
»Ja, und?« fragte Ritter.
»Verstehen Sie denn nicht? Asiatischer Stoff. Konservierungsmittel für Leichen. Kommt direkt zur Ostküste. Sie benutzen die Leichen unserer Gefallenen, um das Zeug einzuschleusen.«
All das, und dazu noch die analytischen Fähigkeiten!
Ritters Telefon klingelte. Es war die Hausleitung.
»Ich hatte doch gesagt, keine Anrufe«, schimpfte der Agent.
»Es ist ›Bill‹, Sir. Er sagt, es sei wichtig.«
Gerade der richtige Zeitpunkt, dachte der Hauptmann. Die Gefangenen wurden in die Dunkelheit hinausgetrieben. Natürlich gab es wieder keinen Strom, und die einzige Beleuchtung, die sie hatten, stammte von den paar batteriebetriebenen Taschenlampen und den wenigen Fackeln, die sein Wachtmeister hastig zusammengeschustert hatte. Den Gefangenen waren die Füße gefesselt, außerdem hatte man ihnen Hände und Arme auf dem Rücken zusammengebunden. Sie marschierten mit gesenktem Kopf. Das diente nicht nur der besseren Kontrolle, sondern auch der Demütigung. Zusätzlich war jedem Mann ein Wehrpflichtiger zugeteilt, der ihn antrieb, sich bis in die Mitte des Platzes zu bewegen. Das hatten sich seine Leute wirklich verdient, dachte der Hauptmann, denn schließlich war ihre Ausbildung hart genug gewesen. Jetzt standen sie kurz vor dem Aufbruch zu ihrem langen Marsch in den Süden, wo sie sich der Aufgabe widmen würden, ihr Land zu befreien und wieder zu vereinigen. Die Amerikaner waren verwirrt und offensichtlich beunruhigt über den Bruch in ihrer gewohnten Routine. Für sie war das Leben in den letzten Wochen ein wenig leichter gewesen. Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht, als er die Gruppe neulich zusammen antreten ließ. Möglicherweise hatte er dadurch unterstützt, daß sie sich gegenseitig Mut machten, doch das war durch den praktischen Anschauungsunterricht für seine Soldaten mehr als wettgemacht. Bald würden seine Leute Amerikaner in größeren Gruppen als dieser töten, und irgendwo mußten sie es ja schließlich lernen. Er brüllte einen Befehl.
Wie in einer einzigen Bewegung rissen seine zwanzig ausgesuchten Soldaten das Gewehr hoch und stießen es den ihnen zugeteilten Gefangenen in den Magen. Ein Amerikaner hielt sich nach dem ersten Schlag noch auf den
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