01 - Gnadenlos
Augenschein nahm. Die Hose hatte in den Kniekehlen Falten, als hätte der Mann die ganze Nacht so gesessen. War es nur ein verlotterter Bursche? Das war nicht wahrscheinlich. Die Schuhe, die er an der Luke zurückgelassen hatte, waren auf Hochglanz poliert. Wahrscheinlich sind sie die ganze Nacht aufgeblieben, schätzte Kelly nach kurzer Überlegung. Sie sind müde, haben Schiß und wissen nicht, was gespielt wird. Wunderbar. Er hatte sein Wasser und seine Schokoriegel - und den ganzen Tag für sich.
»Wenn Sie den Namen dieses Mistkerls kannten, wie kommt es dann - oh, verflucht noch mal!« schimpfte Tucker. »Sie haben mir erzählt, er sei ein reicher Strandheini. Ich habe gesagt, ich könnte ihn im Krankenhaus umlegen, erinnern Sie sich? Aber nein, Sie haben gemeint, ich soll ihn verdammt noch mal gehen lassen!«
»Komm wieder zu dir, Henry«, meinte Piaggi so gelassen, wie er konnte. Da haben wir einen sehr ernst zu nehmenden Burschen draußen. Er hat sechs meiner Leute erledigt. Sechs! Herrgott! Jetzt nur nicht die Nerven verlieren.
»Wir haben Zeit, das durchzudenken.« Tony rieb sich die langen Stoppeln in seinem Gesicht, riß sich zusammen und strengte seine grauen Zellen an. »Er hat ein Gewehr und ist in dem weißen Gebäude drüben auf der Straße.«
»Willst du einfach rübergehen und ihn erwischen, Tony?« Tucker deutete auf Bobbys Kopf. »Schau, was er hier angerichtet hat.«
»Schon mal was vom Einbruch der Nacht gehört, Henry? Da draußen ist ein Licht, direkt über der Tür.« Piaggi ging zum Sicherungskasten, überprüfte die Aufschriften im Türchen und schraubte die entsprechende Sicherung heraus. »So, das Licht geht nicht mehr. Wir können warten, bis es dunkel wird, und dann unseren nächsten Zug machen. Er kann uns nicht alle erwischen. Wenn wir uns schnell genug bewegen, könnte er überhaupt niemand treffen.«
»Was ist mit dem Stoff?«
»Lassen wir doch jemand zur Bewachung hier. Wir kommen dann mit Verstärkung wieder her, holen uns den Mistkerl und führen das Geschäft zu Ende, okay?« Ein machbarer Vorschlag, dachte Piaggi. Der andere hielt nicht alle Trümpfe in der Hand. Er konnte nicht durch Mauern schießen. Sie hatten Wasser, Kaffee, und die Zeit arbeitete für sie.
Die drei Aussagen glichen sich so sehr aufs Wort, wie es sich unter den Umständen nur hoffen ließ. Die Mädchen waren getrennt verhört worden, sobald sie sich von den Pillen soweit erholt hatten, daß sie sprechen konnten, und ihr aufgewühlter Zustand erleichterte die Arbeit. Namen, der Tatort, daß dieses Scheusal Tucker sein Heroin neuerdings auch außerhalb der Stadt vertrieb, der merkwürdige Geruch der Säckchen, von dem Billy gesprochen hatte, was sich im »Labor« auf dem Schiffswrack bei ihrer Durchsuchung bestätigt hatte. Von Tucker waren nun die Nummer seines Führerscheins und seine mögliche Adresse bekannt. Die Adresse mochte falsch sein - sehr wahrscheinlich sogar -, aber dafür hatten sie seine Automarke sowie das Kennzeichen. Ryan hatte alles beisammen, oder zumindest war es soweit, daß er das Ende der Ermittlungen absehen konnte. Es war Zeit, in den Hintergrund zu treten und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Die Angaben wurden in diesem Augenblick über Funk durchgesagt. Bei den kommenden Einsatzbesprechungen auf den Revieren würden der Name Henry Tucker sein Wagen und sein Autokennzeichen den Streifenbeamten bekanntgegeben werden, die die wirklichen Augen der Polizeikräfte waren. Mit viel Glück konnten sie ihn rasch fassen, einbuchten, vor Gericht stellen, anklagen, verurteilen und auf ewig aus dem Verkehr ziehen, selbst wenn das Oberste Gericht die zweifelhafte Gnade walten ließ und ihm das Ende versagte, das sein Leben verdient hatte.
Und doch.
Und doch wußte Ryan, daß er dem anderen einen Schritt hinterherhinkte. Der Unsichtbare benutzte nun eine .45er, nicht mehr den Schalldämpfer; er hatte seine Taktik geändert, war auf rasches, sicheres Töten aus... Lärm war ihm jetzt egal... und er hatte mit den Opfern gesprochen, bevor er sie umbrachte. Deshalb wußte er wahrscheinlich mehr als Ryan. Die gefährliche Katze, die Farber ihm beschrieben hatte, war draußen auf den Straßen, jagte mittlerweile wohl schon bei Tageslicht, doch Ryan hatte keine Ahnung, wo.
John T. Kelly, Chief Bosun's Mate der Navy-SEALs. Wo zum Teufel bist du? Wenn ich an deiner Stelle wäre... wo würde ich mich aufhalten? Wohin würde ich gehen?
»Immer noch da?« fragte Kelly, als Piaggi den Hörer
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