01 - Gott schütze dieses Haus
Bibel.‹ Ich saß da - wahrscheinlich in meine eigenen Phantasien vertieft - und erwartete, daß sie brav ›Ja, Papa‹ sagen würde, wie sie das immer tat. Aber sie wollte an diesem Abend die Bibel nicht lesen, doch William gab nicht nach. Sie wurde völlig hysterisch, stürzte aus dem Zimmer und sperrte sich in ihrem Zimmer ein.«
»Und dann?«
»Gilly hatte ihrem Vater bis dahin immer gehorcht. Der arme William saß da wie vom Donner gerührt. Er schien nicht zu wissen, wie er mit Gillys Widerstand umgehen sollte.«
»Was taten Sie?«
»Nichts, was besonders hilfreich gewesen wäre, soweit ich mich erinnere. Ich ging zu Gillys Zimmer hinauf, aber sie weigerte sich, mich hereinzulassen. Sie schrie nur, daß sie nie mehr in der Bibel lesen würde und daß niemand sie zwingen könne. Dann warf sie alle möglichen Gegenstände an die Tür. Ich - ich ging wieder zu William hinunter.« Sie sah Lynley mit einem Ausdruck an, in dem sich Ungläubigkeit und Bewunderung mischten. »Wissen Sie, William hat nie mit ihr geschimpft. Das war nicht seine Art. Aber später hat er sämtliche Schlüssel von den Türen abgezogen. Er sagte, wenn in der Nacht das Haus niedergebrannt wäre und er Gilly nicht hätte retten können, weil sie sich eingesperrt hatte, hätte er sich das nie verziehen.«
»Hat sie danach wieder mit ihm die Bibel gelesen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat nie wieder von ihr verlangt, sie mit ihm zu lesen.«
»Hat er sie mit Ihnen gelesen?«
»Nein. Nur allein.«
Ein junges Mädchen war während ihres Gesprächs an die Haustür gekommen, eine Scheibe Brot in der Hand, einen Marmeladenklecks am Mund. Sie war zierlich wie ihre Mutter, hatte aber das dunkle Haar und die klugen Augen des Vaters.
»Mama«, rief sie. Ihre Stimme war hell und klar. »Ist was nicht in Ordnung? Geht es um Daddy?«
»Nein, Schatz«, rief Tessa hastig zurück. »Ich komme gleich.« Sie wandte sich wieder Lynley zu.
»Wie gut haben Sie Richard Gibson gekannt?« fragte er sie.
»Williams Neffen? So gut, wie man ihn kennen kann, denke ich. Er war ein stiller Junge, aber liebenswert. Und er hatte einen herrlichen Humor. Gilly hat ihn geliebt. Warum fragen Sie?«
»Weil William ihm den Hof hinterlassen hat und nicht Roberta.«
Sie zog die Brauen zusammen. »Aber wieso nicht Gilly?«
»Gillian ist von zu Hause fortgelaufen, als sie sechzehn war, Mrs. Mowrey. Keiner hat je wieder von ihr gehört.«
Tessa zuckte zusammen wie unter einem Schlag. »Nein«, sagte sie, weniger als wolle sie es leugnen, eher als könne sie es nicht glauben.
»Richard war damals auch schon weg«, fuhr Lynley fort. »Es ist möglich, daß Gillian ihm folgte, dann aber vielleicht nach London ging.«
»Aber warum? Was war denn geschehen?«
Er überlegte, wieviel er ihr sagen sollte.
»Ich habe den Eindruck«, sagte er langsam, »daß zwischen ihr und Richard etwas war.«
»Und William kam dahinter? Er hätte Richard umgebracht, wenn das der Fall gewesen wäre.«
»Nehmen wir an, er kam tatsächlich dahinter und Richard wußte, wie er reagieren würde. Wäre das für Richard nicht Grund genug gewesen fortzugehen?«
»Bestimmt. Aber es erklärt nicht, warum William ihm den Hof hinterlassen hat und nicht Roberta.«
»Er hatte offenbar mit Gibson eine Vereinbarung getroffen. Roberta würde auf Lebenszeit Wohnrecht haben, doch der Besitz selbst sollte auf Gibson übergehen.«
»Aber er mußte doch damit rechnen, daß Roberta eines Tages heiraten würde. Ich finde das sehr ungerecht. William muß doch gewünscht haben, daß der Besitz in seiner Familie bleibt und eines Tages an seine eigenen Enkel übergeht, wenn schon nicht an Gillys Kinder, dann doch an Robertas.«
Ihre neunzehnjährige Abwesenheit hatte eine tiefe Kluft gerissen. Sie wußte nichts von Roberta, nichts vom geheimen Vorratslager des Mädchens, nichts von ihrem totalen inneren Rückzug. Roberta war für ihre Mutter nur ein Name; eine Fremde, die einmal heiraten, Kinder bekommen und alt werden würde. Sie besaß keinerlei Realität. Sie existierte gar nicht.
»Haben Sie nie an die Kinder gedacht?« fragte er sie.
Sie blickte zu Boden, so aufmerksam, als hätte sie nichts Wichtigeres zu tun, als ihre braunen Wildlederschuhe zu inspizieren.
Als sie nichts sagte, hakte er nach.
»Haben Sie sich nie Gedanken darüber gemacht, wie es ihnen geht, Mrs. Mowrey? Haben Sie sich nie vorgestellt, wie sie aussehen, wie sie ihr Leben gestalten?«
Sie schüttelte einmal heftig den Kopf. Und
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