01 - Gott schütze dieses Haus
als sie ihm schließlich antwortete, wirkte ihre Stimme sehr kontrolliert, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen konnte, wie viele verdrängte Emotionen sich dahinter verbargen. Sie hielt den Blick auf die ferne Kathedrale gerichtet.
»Das habe ich mir nicht erlaubt, Inspector. Ich konnte nicht. Ich wußte, daß sie ein gutes Zuhause hatten. Ich wußte, daß es ihnen gutging. Darum ließ ich sie für mich sterben. Das mußte ich, wenn ich überleben wollte. Können Sie das verstehen?«
Vor ein paar Tagen noch hätte er nein gesagt. Und es wäre die Wahrheit gewesen. Aber inzwischen war alles anders.
»Ja«, antwortete er. »Ich verstehe es.« Er nickte ihr zum Abschied zu und ging zum Wagen.
»Inspector -« Er drehte sich um, die Hand schon am Türgriff. »Sie wissen, wo Russell ist, nicht wahr?«
Sie las die Antwort auf seinem Gesicht, aber sie hörte statt dessen auf die Lüge.
»Nein«, antwortete er.
Ezra Farmington wohnte direkt gegenüber vom Dove and Whistle in dem Gemeindehaus, das sich an das Marsha Fitzalans anschloß. Wie bei ihr war der Vordergarten bepflanzt, wurde aber mit weniger Fürsorge gepflegt. Es war, als hätte der Mann mit den besten Vorsätzen begonnen, um sie dann, genau wie die Pflanzen, zu vergessen. Die Büsche gediehen, doch sie hätten längst einmal beschnitten werden müssen, Unkraut wucherte in den Beeten, verwelkte einjährige Pflanzen hätten aus der Erde gezogen und auf den Kompost geworfen werden müssen; das kleine Fleckchen Rasen stand so hoch wie eine Sommerwiese.
Farmington war nicht im geringsten erfreut, ihn zu sehen. Er öffnete Lynley auf sein Klopfen, verstellte ihm aber sogleich den Weg ins Haus. Über seine Schulter sah Lynley, daß er dabei war, seine Arbeiten durchzusehen. Dutzende von Aquarellen lagen im Wohnzimmer auf dem Sofa und auf dem Boden verteilt. Manche waren zerrissen, andere zusammengeknüllt, wieder andere offensichtlich zertrampelt. Der Künstler selbst war sichtlich angetrunken.
»Inspector?« fragte Farmington übertrieben höflich.
»Darf ich hereinkommen?«
Farmington zuckte die Achseln. »Warum nicht?« Er öffnete die Tür ein Stück weiter und lud Lynley mit einer lässigen Geste ein. »Entschuldigen Sie das Chaos. Ich werf gerade mal den Mist raus.«
Lynley stieg über mehrere Bilder hinweg.
»Von vor vier Jahren?« fragte er freundlich.
Der Tip war richtig. Farmingtons Gesicht verriet es ihm, die leichte Blähung seiner Nasenflügel, die Bewegung seiner Lippen.
»Was soll das heißen?« Er lallte fast, merkte es wohl selbst und machte eine sichtliche Anstrengung, sich zusammenzunehmen.
»Um welche Zeit war Ihr Streit mit William Teys?« fragte Lynley, ohne auf die Frage des anderen einzugehen.
»Um welche Zeit?« Farmington zuckte wieder die Achseln. »Keine Ahnung. Drink, Ins. Inspector?« Er grinste mit glasigem Blick und ging mit steifen Bewegungen durchs Zimmer zu einem Glas mit Gin. »Nein? Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich ...? Danke.« Er kippte einen Schluck hinunter, hustete, lachte und wischte sich mit so heftiger Bewegung den Mund ab, daß es fast ein Schlag war. »Schlappie, verträgt nicht mal 'nen Schluck Gin.«
»Sie kamen vom High Kel Moor herunter. Bei Dunkelheit würden Sie diesen Weg nicht gehen, nicht wahr?«
»'türlich nicht.«
»Und Sie hörten Musik aus dem Haus?«
»Ha!« Er machte mit dem Glas in der Hand eine wegwerfende Geste. »Eine ganze Marschkapelle war das, Inspector. Ich dachte, ich wäre mitten in eine Truppenparade reingeraten.«
»Sie haben nur Teys gesehen? Sonst niemanden?«
»Zählt unser tierliebender Nigel mit, der das Hündchen heimbrachte?«
»Abgesehen von Nigel.«
»Nein.« Er hob sein Glas und leerte es. »Ich nehm' an, Roberta war drinnen und hat die Platten gewechselt, die arme fette Kuh. Zu was anderem taugte sie nicht. Außer dazu natürlich -« er zwinkerte mit glasigen Augen - »den lieben Papa mit der Streitaxt ins Jenseits zu befördern.« Er lachte über seine Worte. »Wie Lizzie Borden«, fügte er hinzu und lachte noch lauter.
Lynley fragte sich, warum der Mann es darauf anlegte, abstoßend zu wirken; warum er sich solche Mühe gab, eine Seite seines Wesens hervorzukehren, die so häßlich war, daß sie kaum zu ertragen war. Sie schien nur aus Haß und Zorn zu bestehen und aus einer so abgrundtiefen Verachtung, daß man sie beinahe greifen konnte. Farmington war unverkennbar ein talentierter Maler, doch er schien blind entschlossen, die kreative Kraft
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