01 - Gott schütze dieses Haus
Roberta hätte alle Exemplare jenes Tages bei den Dorfbewohnern eingesammelt, um sie sich aufzuheben.
»Die Anzeigen«, murmelte Lynley. »Gillian hat ihr eine Nachricht geschickt.«
Barbara zog eines der Blätter zu sich heran und fuhr mit dem Finger die Spalte unter der Überschrift ›Verschiedenes‹ hinunter.
»›R. Schau die Annonce an. G.‹«, las sie vor. »Ich glaube, das ist die Nachricht.«
»Schau die Annonce an? Welche Annonce?«
Sie griff nach einem der Exemplare der anderen aufbewahrten Seite.
»Die hier, denke ich.«
Er las sie, eine kleine Bekanntmachung unter einem Datum, das fast vier Jahre zurücklag. Es wurde auf ein Treffen in Harrogate hingewiesen, eine Podiumsdiskussion, die von einer Organisation namens Testament House veranstaltet werden sollte. Die Diskussionsteilnehmer waren namentlich aufgeführt, doch Gillian Teys war nicht unter ihnen. Lynley sah mit offener Verständnislosigkeit auf.
»Da komme ich nicht mit, Sergeant.«
Sie zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Kennen Sie Testament House nicht? Aber natürlich, ich vergesse dauernd, daß Sie ja seit Jahren nicht mehr in Uniform sind. Testament House ist am Fitzroy Square und wird von einem anglikanischen Geistlichen geleitet. Er war früher Universitätsdozent, aber eines Tages soll ihn einer seiner Studenten gefragt haben, warum er nicht praktiziere, was er predige - daß man die Hungrigen speisen und die Nackten kleiden soll -, und da fand er offenbar, daß dies eine Aufgabe wäre, der er sich zuwenden sollte. Er gründete Testament House.«
»Und was ist das nun genau?«
»Eine Organisation, die streunende Jugendliche aufnimmt. Minderjährige Prostituierte, Strichjungen, Drogenabhängige und jeden anderen Jugendlichen, der sich ziellos am Trafalgar Square, am Piccadilly Circus oder an einem der Bahnhöfe herumtreibt. Der Mann ist bei der uniformierten Polizei bekannt. Wir bringen ihm ständig junge Leute.«
»Das ist der Reverend George Clarence, der hier aufgeführt ist, nehme ich an?«
Sie nickte. »Er hält Podiumsdiskussionen, um Mittel für die Organisation lockerzumachen.«
»Und Sie glauben, daß Gillian Teys von dieser Gruppe in London aufgenommen wurde?«
»Ja.«
»Warum glauben Sie das?«
Sie hatte ewig gebraucht, um die Annonce zu finden, noch länger, ihre Bedeutsamkeit zu entdecken, und nun hing alles - im besonderen ihre weitere Laufbahn, wie sie sich eingestand - von Lynleys Bereitschaft ab, ihr zu glauben.
»Wegen dieses Namens.« Sie wies auf den dritten Namen in der Liste der Diskussionsteilnehmer.
»Nell Graham?«
»Ja.«
»Ich tappe völlig im dunklen.«
»Ich glaube ›Nell Graham‹ war die Nachricht, auf die Roberta wartete. Jahrelang las sie Tag für Tag getreulich die Zeitung, weil sie zu erfahren hoffte, was aus ihrer Schwester geworden war. ›Nell Graham‹ sagte es ihr. Es hieß, daß Gillian lebte.«
»Aber warum Nell Graham? Warum nicht -« Er blickte auf die anderen Namen - »Terence Hanover, Caroline Paulson oder Margaret Crist?«
Barbara nahm das abgegriffene Buch vom Tisch.
»Weil sie alle keine Geschöpfe der Brontës sind.« Sie klopfte auf das Buch. »The Tenant of Wildfell Hall handelt von Helen Huntington, einer Frau, die aus den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit ausbricht und ihren trunksüchtigen Mann verläßt, um ein neues Leben anzufangen. Sie verliebt sich in einen Mann, der nichts von ihrer Vergangenheit weiß, der nur den Namen kennt, den sie für sich selbst gewählt hat: Helen Graham. Nell Graham, Inspector.«
Sie schwieg und wartete unter Qualen auf seine Reaktion.
Sie hätte sie nicht stärker überraschen, rascher entwaffnen können.
»Bravo, Barbara«, sagte er leise. Seine Augen blitzten auf, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Begierig beugte er sich vor. »Und wie geriet sie Ihrer Meinung nach zu dieser Gruppe?«
Die Erleichterung war so ungeheur, daß Barbara plötzlich am ganzen Körper zitterte. Sie holte einmal bebend Luft, dann begann sie zu sprechen.
»Meiner ... Ich glaube, Gillian hatte genug Geld, um nach London zu kommen, aber dann wird es ihr bald ausgegangen sein. Vielleicht haben sie sie irgendwo auf der Straße aufgelesen oder in einem der Bahnhöfe.«
»Aber hätten sie sie nicht zu ihrem Vater zurückgeschickt?«
»Nein, so arbeitet die Organisation nicht. Sie reden den Jugendlichen zu, nach Hause zurückzukehren oder wenigstens die Eltern anzurufen, um sie wissen zu lassen, daß ihnen nichts
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