01 - Gott schütze dieses Haus
hatte, wenn er verzweifelt gewesen war; ihre unerschütterliche Liebe, wenn er sie am meisten gebraucht hatte.
Wie jetzt, dachte Jonah.
In den vergangenen zwölf Stunden hatte er sein eigenes Verhalten einer tiefgehenden und schonungslosen Musterung unterzogen und sich gezwungen, es als das zu sehen, was es war: Feigheit. Er hatte Frau und Heim verlassen, war kopflos davongelaufen, geflohen, um sich der Wahrheit nicht stellen zu müssen, vor der er Angst hatte. Doch was gab es zu fürchten, wenn Nell - wer immer sie auch sein mochte - doch nicht mehr und nicht weniger sein konnte als der liebevolle Mensch, der ihm immer zur Seite gestanden, aufmerksam jedem seiner Worte gelauscht, ihn nachts in ihren Armen gehalten hatte? Es konnte kein finsteres Ungeheuer in ihrer Vergangenheit geben, vor dem er sich fürchten mußte. Es konnte nur das geben, was sie für ihn war und immer gewesen war.
Das war die Wahrheit. Er wußte es. Er fühlte es. Er glaubte es. Und als sich die Tür der Anstalt öffnete, stand er rasch auf und ging durch die große Eingangshalle seiner Frau entgegen.
Lynley spürte Gillians Zögern, als sie die Anstalt betraten. Im ersten Moment schrieb er es ihrer begreiflichen Angst vor dem Zusammentreffen mit ihrer Schwester zu, die sie so viele Jahre nicht gesehen hatte. Dann aber bemerkte er, daß ihr Blick auf einen jungen Mann gerichtet war, der durch das Foyer auf sie zukam. Er wandte sich ihr zu, um etwas zu sagen, doch da sah er auf ihrem Gesicht einen Ausdruck tiefen Entsetzens.
»Jonah«, sagte sie erstickt und wich einen Schritt zurück.
»Sei mir nicht böse.« Jonah Clarence streckte die Arme aus, als wollte er sie berühren, aber dann hielt er inne. »Verzeih mir. Es tut mir leid, Nell.«
Seine Augen waren wie ausgelöscht, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen.
»So darfst du mich nicht nennen. Jetzt nicht mehr.«
Er ignorierte ihre Worte. »Ich habe die ganze Nacht auf einer Bank im King's-Cross-Bahnhof gesessen und versucht, mir klarzuwerden, mir zu überlegen, ob du einen Mann lieben könntest, der zu feige war, seiner Frau beizustehen, als sie ihn am dringendsten brauchte.«
Sie hob die Hand und berührte seinen Arm.
»Ach, Jonah«, sagte sie. »Bitte. Fahr nach London zurück.«
»Verlang das nicht von mir. Das wäre zu einfach.«
»Bitte! Ich bitte dich. Tu's für mich.«
»Nicht ohne dich. Nein, das tue ich nicht. Wenn du glaubst, daß du hier etwas erledigen mußt, dann bleibe ich bei dir.« Er sah Lynley fragend an. »Kann ich bei meiner Frau bleiben?«
»Das kommt allein auf Gillian an«, antwortete Lynley und sah deutlich, wie der junge Mann bei dem Namen unwillkürlich zusammenzuckte.
»Wenn du bleiben willst, Jonah«, sagte sie leise.
Er lächelte sie an, berührte leicht ihre Wange und wandte den Blick erst von ihrem Gesicht, als Dr. Samuels kam.
Der Arzt musterte die ganze Gruppe ohne ein Lächeln. Es war ihm nicht anzumerken, ob er froh war über das Erscheinen von Roberta Teys' Schwester und über die Möglichkeit des Fortschritts, die damit verbunden war.
»Inspector«, sagte er statt einer Begrüßung, »ist eine so große Gruppe wirklich notwendig?«
»Ja«, antwortete Lynley ruhig und hoffte, daß der Mann die Vernunft besaß, Gillians Zustand zu beachten, ehe er zornig protestierte.
Samuels war anzusehen, daß er ungehalten war. Er war es offensichtlich nicht gewöhnt, anders als mit unterwürfiger Höflichkeit behandelt zu werden, und jetzt schien er zu schwanken zwischen dem Verlangen, Lynley scharf in die Schranken zu weisen, und dem Wunsch das geplante Zusammentreffen zwischen den beiden Schwestern trotz allem durchzuführen. Seine Sorge um Roberta behielt die Oberhand.
»Das ist die Schwester?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm er Gillian beim Arm und konzentrierte seine Aufmerksamkeit ganz auf sie, während sie den Weg durch den langen Korridor zur geschlossenen Abteilung antraten.
»Ich habe Roberta erzählt, daß Sie sie besuchen werden«, sagte er ruhig, den Kopf zu ihr neigend. »Aber Sie müssen sich darauf vorbereiten, daß sie vielleicht keine Reaktion auf Ihre Anwesenheit zeigen wird. Es ist unwahrscheinlich, daß sie mit Ihnen sprechen wird.«
»Hat sie -« Gillian zögerte, offenbar unsicher, wie sie fortfahren sollte. »Hat sie immer noch nichts gesprochen?«
»Nein. Aber wir befinden uns noch in einem sehr frühen Therapiestadium, Miß Teys, und -«
»Mrs. Clarence«, warf Jonah fest ein.
Samuels blieb stehen und
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