01 - Gott schütze dieses Haus
Lynley. Hat bestimmt wieder eine wilde Nacht mit Stepha verbracht. Klar. Diesmal konnte es ihm ja gleich sein, wie laut die Frau kreischte, da war's bestimmt die doppelte Wucht. Und heute nacht würde er der liebreizenden Lady zu Diensten sein müssen. Aber das schaffte er schon. Er gehörte sicher zu denen, die mit den Anforderungen wuchsen. Und danach konnte er gleich noch Gillian vernaschen. Ihr Mann, dieses blutarme Bürschchen, würde die Zügel bestimmt mit Freuden an einen richtigen Mann übergeben.
Lieber Gott, die beiden faßten das kleine Luder wirklich mit Glacéhandschuhen an. Lady Helen konnte man das nicht verübeln. Sie wußte ja nicht, was Gillian Teys für eine war. Aber welche Entschuldigung hatte Lynley? Seit wann behandelte man Mordverdächtige bei der Kripo wie VIPs?
»Sie werden Roberta sehr verändert finden, Gillian«, sagte er gerade.
Barbara hörte die Worte ungläubig. Was hatte er vor? Was redete er da? Wollte er sie allen Ernstes auf das Zusammentreffen mit ihrer Schwester vorbereiten, wo sie doch beide genau wußten, daß sie sie erst drei Wochen zuvor gesehen hatte, als sie gemeinsam William Teys getötet hatten?
»Ich verstehe«, antwortete Gillian beinahe unhörbar.
»Sie wurde fürs erste in einer Nervenheilanstalt untergebracht«, fuhr Lynley behutsam fort. »Es geht um die Frage der geistigen Zurechnungsfähigkeit; denn sie hat das Verbrechen zwar zugegeben, seitdem aber kein Wort mehr gesprochen.«
»Wie kam sie ... Wer ...?« Gillian zögerte und gab auf. Sie schien in ihrem Sitz zu schrumpfen.
»Ihr Vetter Richard Gibson hat sie einweisen lassen.«
»Richard?« Ihre Stimme wurde noch leiser.
»Ja.«
Keiner sprach. Barbara wartete ungeduldig darauf, daß Lynley anfangen würde, die Frau zu verhören. Sein offenkundiges Widerstreben, es zu tun, war ihr unverständlich. Was machte er nur? Er tat so fürsorglich, als hätte er das Opfer eines Verbrechens vor sich, nicht seine Urheberin.
Verstohlen musterte Barbara Gillian. Die verstand es wirklich, die Leute zu manipulieren. Gestern ein paar Minuten im Badezimmer, und die ganze Bande hier fraß ihr praktisch aus der Hand.
Ihr Blick glitt wieder zu Lynley. Warum hatte er sie überhaupt zurückgeholt? Es konnte eigentlich nur einen Grund dafür geben: Er wollte sie ein für allemal an ihren Platz verweisen. Er wollte sie damit demütigen, daß er ihr vor Augen führte, daß selbst eine Dilettantin wie die holdselige Lady mehr Geschick und Fingerspitzengefühl hatte als Havers, die dämliche Ziege. Und sie dann für immer zur uniformierten Polizei verbannen.
Danke, Inspector, ich habe die Botschaft erhalten. Jetzt sehnte sie sich nur noch nach der Rückkehr nach London. Sollten Lynley und seine Lady die Bescherung beseitigen, die sie angerichtet hatte.
Sie hatte das Haar in zwei langen blonden Zöpfen getragen. Deshalb hatte sie an jenem ersten Abend im Testament House so jung ausgesehen. Sie sprach mit niemandem, taxierte vielmehr schweigend die Gruppe, um festzustellen, ob die Menschen hier ihres Vertrauens würdig waren. Und nachdem sie sich entschlossen hatte, ihnen zu vertrauen, hatte sie nur ihren Namen gesagt: Helen Graham, Nell Graham.
Aber hatte er nicht von Anfang an gewußt, daß es nicht ihr wahrer Name war? Vielleicht hatte das leichte Zögern sie verraten, das ihrer Antwort vorausging, wenn jemand sie ansprach. Vielleicht war es die Trauer in ihrem Blick, wenn sie selbst ihn aussprach. Vielleicht waren es die Tränen, als er zum erstenmal mit ihr geschlafen und in der Dunkelheit »Nell« geflüstert hatte. Wie dem auch sei, hatte er nicht immer gewußt - irgendwo im Innern -, daß es nicht ihr wahrer Name war?
Was hatte ihn zu ihr hingezogen? Anfangs war es die kindhafte Unschuld, mit der sie sich dem Leben im Testament House anvertraut hatte. Sie war so lernbegierig und setzte sich später mit solchem Feuer für die Ziele der Organisation ein. Dann war es die Reinheit gewesen, die er so bewunderte, diese Reinheit, die ihr gestattete, unberührt von Häßlichkeiten und Feindseligkeiten, die von außen an sie herangetragen wurden, ein eigenes Leben zu fuhren. Und auch ihr Gottvertrauen - nicht die demonstrative, eifernde Frömmigkeit der Bekehrten, sondern die gelassene Anerkennung einer Macht, die größer war als sie - hatte ihn berührt. Und schließlich war es ihr unerschütterlicher Glaube an ihn gewesen, an seine Fähigkeit, Großes zu leisten; die Worte der Ermutigung, die sie stets für ihn gehabt
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