01 - Gott schütze dieses Haus
durchgebrannte Jugendliche. Die können dort wohnen. Ich mache alle möglichen Arbeiten, aber am liebsten mag ich die Beratungsarbeit mit den Jugendlichen. Sie sagen, daß es ihnen leichtfällt, mit mir zu reden.« Sie schwieg einen Moment. »Bobby, möchtest du nicht mit mir reden?«
Das Mädchen atmete, als wäre sie betäubt. Der Kopf hing ihr auf eine Seite, als schliefe sie.
»Ich mag London. Das hätte ich nie gedacht, aber ich mag es wirklich. Wahrscheinlich, weil da meine Träume sind. Ich - ich möchte gern ein Kind. Das ist einer meiner Träume. Und ich würde - ich glaube, ich würde gern ein Buch schreiben. Mir gehen so viele Dinge durch den Kopf, und ich möchte sie gern aufschreiben. Wie die Brontë-Schwestern. Weißt du noch, wie wir immer die Brontës gelesen haben? Die hatten auch Träume, nicht wahr? Ich glaube, Träume braucht man einfach. Sie sind wichtig.«
»Es klappt nicht«, sagte Jonah Clarence brüsk. In dem Moment, in dem seine Frau die kleine Kammer verlassen hatte, hatte er die Falle gesehen, hatte begriffen, daß ihr Eintritt in die Welt ihrer Schwester eine Rückkehr in die Vergangenheit war, in der er keinen Platz hatte, aus der er sie nicht retten konnte. »Wie lang muß sie da drinnen bleiben?«
»Solange sie will.« Lynleys Stimme war kühl. »Es liegt nur bei Gillian.«
»Aber da kann doch alles mögliche passieren. Begreift sie das denn nicht?«
Jonah wäre am liebsten aufgesprungen, hätte die Tür aufgerissen und seine Frau weggezerrt. Es war, als reiche allein ihre Anwesenheit in dem Zimmer - gefangen mit diesem grauenvollen Elefantenbaby, das ihre Schwester war -, um sie anzustecken und für immer zu vernichten.
»Nell!« sagte er heftig.
»Ich möchte dir von der Nacht erzählen, als ich wegging, Bobby«, fuhr Gillian fort, den Blick auf das Gesicht ihrer Schwester gerichtet, in der Hoffnung auf eine noch so winzige Regung, die Verständnis und Wiedererkennen zeigen würde, die ihr gestatten würde, mit dem Reden aufzuhören.
»Ich weiß nicht, ob du dich noch daran erinnerst. Es war der Abend nach meinem sechzehnten Geburtstag. Ich -« Es war zuviel. Sie konnte nicht. Sie zwang sich vorwärts. »Ich habe Papa Geld gestohlen. Hat er dir das erzählt? Ich wußte, wo er das Geld aufbewahrte, das Extrageld für besondere Ausgaben, und da hab' ich es genommen. Es war unrecht, ich weiß, aber ich - ich mußte fort. Ich mußte einfach eine Weile fort. Das weißt du doch, nicht wahr?« Und noch einmal, als suche sie Vergewisserung. »Nicht wahr, Bobby?«
Wiegte sich das Mädchen jetzt rascher, oder bildeten sich das die Beobachter nur ein?
»Ich bin nach York gegangen. Ich hab' die ganze Nacht gebraucht. Ich bin zu Fuß gegangen und per Anhalter gefahren. Ich hatte nur den Rucksack, du weißt schon, den, in dem ich immer meine Schulbücher hatte. Darum konnte ich nicht viele Sachen mitnehmen. Nur einmal zum Wechseln. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht hab', als ich einfach so ausriß. Das kommt einem jetzt ganz verrückt vor, nicht?«
Gillian lächelte ihre Schwester flüchtig an. Sie spürte das Hämmern ihres Herzens. Das Atmen fiel ihr schwer.
»Ich kam nach York. Ich werde nie den Anblick vergessen, als die Morgensonne auf die Kathedrale fiel. Es war so schön. Am liebsten wäre ich für immer geblieben.« Sie hielt inne, legte die Hände fest in den Schoß. Die tiefen Kratzer waren zu sehen. »Ich blieb den ganzen Tag in York. Ich hatte solche Angst, Bobby. Ich war doch noch nie ganz allein über Nacht von zu Hause fort gewesen, und ich wußte gar nicht mehr, ob ich überhaupt noch nach London wollte. Ich dachte, es wäre vielleicht einfacher, wenn ich auf den Hof zurückginge. Aber ich - ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht.«
»Das ist doch sinnlos«, erklärte Jonah Clarence heiser. »Was soll das? Wie soll das Roberta helfen?«
Lynley warf ihm einen mißtrauischen Blick zu, doch der junge Mann beruhigte sich wieder. Seine rechte Hand allerdings war zur Faust geballt.
»Da hab' ich am Abend den Zug genommen. Er hat so oft gehalten, und jedesmal dachte ich, gleich würden sie mich rausholen. Ich dachte, Papa hätte vielleicht die Polizei alarmiert oder wäre mir selbst nachgekommen. Aber es geschah nichts. Die ganze Fahrt bis London nicht. Dann kam ich am King's-Cross-Bahnhof an.«
»Du brauchst ihr nicht von dem Zuhälter zu erzählen«, flüsterte Jonah. »Was hat das für einen Sinn.«
»Am King's-Cross-Bahnhof war ein netter Mann, der
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