01 - Gott schütze dieses Haus
einem recht ungepflegten Herrenclub.
Barbara bemerkte die Zeichen der Erschöpfung in Lynlys Gesicht; das Aspirin schien ihm wenig geholfen zu haben. Er stand vor der Wand mit den Fotos der Opfer des Bahnhofskillers und betrachtete sie, langsam von einem zum anderen tretend. Einmal hob er die Hand - vor dem Bild, das den Toten vom King's-Cross-Bahnhof zeigte - und zeichnete mit dem Finger den grausamen Schnitt vom Messer des Killers nach.
»Der Tod erledigt alles«, murmelte er. »Wer würde auf diesem Bild noch den lebenden Menschen erkennen?«
»Oder auf diesem«, bemerkte Webberly mit einer brüsken Geste zu den Fotografien, die Pater Hart mitgebracht hatte.
Lynley gesellte sich wieder zu ihnen. Er stand nahe bei Barbara, war sich jedoch, das wußte sie nur zu gut, ihrer Anwesenheit gar nicht bewußt. Sie beobachtete die Regungen, die rasch über sein Gesicht flogen, während er ein letztesmal die Fotos durchging: Ekel, Ungläubigkeit, Trauer. In seinem Gesicht war so leicht zu lesen, daß sie sich fragte, wie er überhaupt ein Verhör fuhren konnte, ohne dem Verdächtigen gleich alles zu verraten. Doch er konnte es. Sie wußte von seinen Erfolgen, von der Reihe nachfolgender Verurteilungen. Er war in mehr als einer Hinsicht der Goldjunge.
»Gut, dann fahren wir also morgen hinauf«, sagte er zu Webberly, während er die Unterlagen in einen großen braunen Umschlag schob.
Webberly studierte einen Fahrplan, den er unter dem Wust auf seinem Schreibtisch herausgekramt hatte.
»Nehmen Sie den Zug um dreiviertel neun.«
Lynley stöhnte. »Seien Sie barmherzig, Sir. Ich möchte wenigstens zehn Stunden Ruhe, um diese Migräne loszuwerden.«
»Gut, dann den um halb zehn. Keinesfalls später.«
Webberly sah sich ein letztesmal in seinem Büro um, während er in sein Tweedjackett schlüpfte. Es war wie seine anderen Sachen bereits etwas abgetragen und am linken Revers, wo vermutlich Zigarrenglut ein Loch in den Stoff gebrannt hatte, notdürftig ausgebessert.
»Melden Sie sich am Dienstag«, sagte er beim Hinausgehen.
Webberlys Verschwinden schien Lynley augenblicklich wieder neue Kräfte zu verleihen. Lebhaft ging er zum Telefon, wählte, trommelte mit den Fingern ungeduldig auf den Schreibtisch, während er auf die Uhr starrte. Nach fast einer Minute kam lächelnde Bewegung in sein Gesicht.
»Du hast also doch gewartet, Goldkind«, sagte er. »Hast du endlich mit Jeffrey Cusick Schluß gemacht? - Ha, ich hab's doch gewußt, Helen. Ich hab' dir ja immer wieder gesagt, daß ein Jurist dich nicht glücklich machen kann. War die Feier noch nett? - Ach was, im Ernst? Das muß ja ein Bild gewesen sein. Hat Andrew in seinem Leben überhaupt schon mal geweint? - Der arme Simon. Er war wohl völlig niedergeschmettert? - Ja, weißt du, das ist der Champagner. Hat Sidney sich wieder gefaßt? - Ja, eine Zeitlang sah es ganz so aus, als würde sie am Ende doch noch ein bißchen wehleidig werden. Kein Wunder, wo Simon ihr Lieblingsbruder ist. - Aber natürlich gehen wir tanzen. Das haben wir uns schließlich fest vorgenommen. - Wie wär's in ungefähr einer Stunde? Ist dir das recht? - Wie bitte? Was hast du da gesagt? - Helen! Du bist wirklich ein freches Gör!« Lachend legte er auf. »Ach, Sie sind noch da, Sergeant?« fragte er, als er sich umdrehte.
»Sie haben keinen Wagen, Sir«, antwortete sie steinern. »Ich dachte, Sie brauchen mich vielleicht, um Sie nach Hause zu fahren.«
»Das ist wirklich nett von Ihnen, aber die Sitzung hier hat lange genug gedauert. Mal muß auch Schluß sein. Sie haben an einem Samstagabend bestimmt was Besseres vor, als mich nach Hause zu fahren. Ich nehme ein Taxi.« Er beugte sich über Webberlys Schreibtisch, nahm einen Zettel und schrieb rasch etwas auf. »Hier ist meine Adresse«, sagte er. »Seien Sie morgen um sieben da. Dann bleibt uns noch Zeit, uns etwas mehr in die Sache zu vertiefen, ehe wir nach Yorkshire fahren. Also dann, schönen Abend.« Und weg war er.
Barbara blickte auf den Zettel in ihrer Hand, starrte eine volle Minute auf die großzügigen Schriftzüge, dann riß sie das Papier in kleine Fetzen und warf sie in den Papierkorb. Sie wußte schon lange, wo Thomas Lynley wohnte.
Die Schuldgefühle kamen in der Uxbridge Road. Wie immer. An diesem Abend wurden sie noch schlimmer, als sie sah, daß das Reisebüro geschlossen war und sie die Prospekte über Griechenland, die sie mitzubringen versprochen hatte, nicht mehr holen konnte. Empress Tours. So ein
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