01 - Gott schütze dieses Haus
Lynley.
»Vielleicht ihr erstes Kind«, meinte Barbara.
»Aber dazu ist die Kleine doch zu alt. Dann müßte Tessa sie ja geboren haben, als sie selbst noch ein Kind war.«
Er stellte den Rahmen wieder auf die Kommode, steckte das Foto ein und wandte sich den Schubladen der Kommode zu.
»Aha«, sagte er, »jetzt wissen wir wenigstens, warum Roberta so erpicht auf den Guardian war. Sie hat die Schubladen damit ausgelegt. Und - Havers, sehen Sie sich das an.« Aus der untersten Schublade zog er unter einem Stoß abgetragener Pullover eine weitere Fotografie hervor. »Wieder das geheimnisvolle Mädchen.«
Barbara betrachtete das Bild, das er ihr reichte. Es zeigte in der Tat dasselbe Mädchen, nur älter inzwischen, ein Teenager. Sie und Roberta standen im Schnee vor der St.-Catherine's-Kirche, und beide blickten lachend in die Kamera. Das ältere Mädchen hatte Roberta die Hände auf die Schultern gelegt und zog sie nach rückwärts zu sich heran. Sie selbst stand vorgeneigt - nur leicht, da Roberta beinahe so groß war wie sie - und drückte ihre Wange an die des anderen Kindes. Ihr honigblondes Haar vermischte sich mit Robertas dunklen Locken. Vor den beiden saß ein schwarzweißer Hund, der beinahe aussah, als lachte er mit ihnen. Schnauz.
»So übel sieht Roberta da gar nicht aus«, sagte Barbara, als sie Lynley die Aufnahme zurückgab. »Groß, aber überhaupt nicht dick.«
»Dann muß das Bild gemacht worden sein, ehe Gibson von hier wegging. Sie wissen, was Stepha sagte. Damals war sie noch nicht dick. Das fing erst an, als Richard weg war.« Er steckte auch diese Fotografie ein und sah sich im Zimmer um. »Sonst noch etwas?« fragte er.
»Im Schrank hängen ein paar Kleider. Nichts, was weiter interessant wäre.«
Wie im anderen Zimmer zog er auch hier den Überwurf vom Bett. Dieses hier war bezogen, und von dem frisch gewaschenen Laken stieg ein feiner Jasminduft auf. Aber in den Jasminduft mischte sich kaum wahrnehmbar ein anderer, unangenehm süßlicher Geruch.
Barbara sah Lynley an. »Riechen Sie's auch?«
»Und wie«, antwortete er. »Helfen Sie mir die Matratze hochheben.«
Sie drückte eine Hand auf Mund und Nase, als der Gestank sich schlagartig im ganzen Zimmer ausbreitete, und sie sahen, was sich unter der alten Matratze befand. In der hinteren Ecke des Betts war der Bezug des Sprungrahmens aufgeschnitten, und darunter befand sich ein wahres Vorratslager an Nahrungsmitteln. Verfaulende Früchte, schimmliges Brot, bröckelige Kekse, Süßigkeiten, angebissene kleine Kuchen, Beutel mit Chips.
»Mein Gott!« murmelte Barbara. Es war mehr ein Stoßgebet als ein Ausruf, und trotz der Greulichkeiten, die sie als Polizeibeamtin schon gesehen hatte, drohte sich ihr der Magen umzudrehen. Angewidert wich sie zurück. »Entschuldigen Sie«, stieß sie mit einem zittrigen Lachen hervor. »Ich bin nur ein bißchen aus der Fassung.«
Lynley ließ die Matratze wieder herunter. Sein Gesicht war ausdruckslos.
»Sabotage«, sagte er zu sich selbst.
»Sir?«
»Stepha sagte etwas von einer Diät.«
Wie vorher Barbara ging jetzt Lynley ans Fenster.
Im blassen Licht des nahenden Abends nahm er die Fotografien aus seiner Jackentasche und musterte sie. Er stand reglos, vielleicht in der Hoffnung, eine eingehende, ungestörte Betrachtung der beiden Mädchen würde ihm einen Hinweis darauf geben, wer William Teys getötet hatte und warum und was ein Vorratslager mit verfaulendem Essen mit allem zu tun hatte.
Barbara beobachtete ihn. Im Spiel des Lichts, das in schrägem Strahl auf Haar, Wange und Stirn fiel, wirkte er weit jünger, als er mit seinen 32 Jahren tatsächlich war. Und doch konnte nichts die Klugheit des Mannes, den wachen Geist, der sich in seinem Auge spiegelte, verschleiern, nicht einmal die Schatten. Das einzige Geräusch im Zimmer waren seine Atemzüge, ruhig und regelmäßig, sehr sicher. Er drehte den Kopf, sah, daß sie ihn beobachtete, und wollte sprechen.
Sie verhinderte es.
»Also«, sagte sie energisch und schob sich mit kampflustiger Geste das Haar hinter die Ohren, »haben Sie in den anderen Zimmern noch was entdeckt?«
»Nur einen Kasten voller alter Schlüssel im Schrank und eine ganze Andenkensammlung an Tessa«, antwortete er. »Kleider, Fotos, Haarlocken. Neben Teys' eigenen Sachen natürlich.« Er steckte die Fotos wieder ein. »Es würde mich interessieren, ob Olivia Odell wußte, worauf sie sich da eingelassen hatte.«
Sie waren den Weg vom Dorf zum Hof zu Fuß
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