01 - Gott schütze dieses Haus
daß es immer eine große Hilfe ist, einen Fall mit einer anderen Person durchzudiskutieren.«
In Wirklichkeit aber war es viel mehr als das. Es waren Streitigkeiten, später Lachen, die geliebte Stimme, die sagte: Oh, du bist überzeugt, daß du recht hast, Tommy, aber ich werde dir das Gegenteil beweisen! Das Gefühl tiefer Einsamkeit senkte sich über ihn wie ein grauer Schleier.
Sie schwiegen beide. Bis Barbara die Spannung nicht mehr aushalten konnte.
»Ich weiß nicht, was es ist«, sagte sie. »Plötzlich fällt bei mir eine Klappe runter, und ich vergesse völlig, was ich tue.«
»Ich verstehe.«
Mehr antwortete er nicht. Während sein Blick dann und wann zu den Hängen jenseits des Tals schweifte, durch das die Straße führte, dachte er an Tessa Mowrey. Er versuchte, sie zu verstehen, und wußte, daß er dazu schlecht gerüstet war. Sein eigenes Leben bot ihm keinen Schlüssel zum Verständnis des beschränkten und erlebnisarmen Lebens auf einem abgelegenen Bauernhof, das ein vierzehnjähriges Mädchen in die Illusion treiben konnte, nur eine sofortige Heirat böte ihr eine Zukunft. Aber das war zweifellos die Grundlage all dessen, was geschehen war. Keine romantischen Interpretationen der Tatsachen -keine Betrachtungen über Heathcliff, so angebracht sie auch sein mochten - konnten über die wahre Erklärung hinwegtäuschen. Die Plackerei, das öde Einerlei jener Wochen, als sie gezwungen gewesen war, auf dem Hof zu bleiben und mitzuhelfen, waren schuld daran, daß ihr ein simpler Bauer zum Märchenprinzen geworden war. Und so war sie von einem Käfig in den anderen geflogen. Mit vierzehn Ehefrau, mit fünfzehn Mutter. Hätte nicht jede Frau nur den einen Wunsch gehabt, einem solchen Leben zu entfliehen? Aber warum hatte sie dann so schnell wieder geheiratet?
Anscheinend unfähig, das Schweigen länger zu ertragen, unterbrach Barbara seine Überlegungen. Der Ton ihrer Stimme verriet, daß sie unter innerem Druck stand. Lynley warf ihr einen neugierigen Blick zu. Auf ihrer Stirn standen kleine Schweißperlen. Sie schluckte geräuschvoll.
»Was ich nicht verstehe, ist der - der Gedenkschrein für Tessa. Die Frau verläßt ihn - womit ich nicht sagen will, daß sie nicht jedes Recht dazu hatte -, und er errichtet ihr im Wohnzimmer den reinsten Altar.«
Der Schrein. Natürlich, dachte Lynley. »Woher wissen wir, daß William den Schrein errichtet hat?«
Barbara hatte ihre Erklärung bereits bei der Hand.
»Eines der beiden Mädchen könnte es gewesen sein«, sagte sie.
»Und welche, glauben Sie?«
»Gillian.«
»Aus Rache? Um William täglich daran zu erinnern, daß Mama durchgebrannt ist? Um ihn ein bißchen zu quälen, weil er Roberta bevorzugte?«
»Genau, Sir.«
Wieder fuhren sie eine Weile schweigend, dann sagte Lynley: »Sie könnte es getan haben, Havers. Die Verzweiflung könnte sie dazu getrieben haben.«
»Tessa, meinen Sie?«
»Russell war an dem Abend weg. Sie sagt, sie hätte eine Tablette genommen und wäre gleich zu Bett gegangen. Aber niemand kann das bestätigen. Sie kann auch nach Keldale gefahren sein.«
»Warum hätte sie den Hund töten sollen?« »Der hätte sie doch nicht gekannt. Den hat es vor neunzehn Jahren noch nicht gegeben. Was wäre denn Tessa für ihn gewesen? Eine Fremde.«
»Aber sie hätte William doch nicht zu töten brauchen«, meinte Barbara stirnrunzelnd. »Sie hätte sich doch scheiden lassen können.«
»Nein. So leicht nicht. Sie vergessen, daß er katholisch war.«
»Trotzdem ist Russell für mich der wahrscheinlichere Kandidat. Wer weiß, wohin er an dem Abend gefahren ist.« Als Lynley nichts erwiderte, fügte sie hinzu: »Sir?«
»Ich -« Lynley zögerte und widmete der Straße mehr Aufmerksamkeit, als nötig gewesen wäre. »Tessa hat recht. Er ist nach London gefahren.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Weil ich glaube, daß ich ihn gesehen habe, Havers. Im Yard.«
»Also wollte er sie tatsächlich anzeigen. Sie hat wahrscheinlich die ganze Zeit gewußt, daß er das tun würde.«
»Nein. Das glaube ich nicht.«
Barbara bot einen weiteren Kandidaten an. »Vielleicht war's auch Ezra.«
Lynley warf ihr einen lächelnden Blick zu.
»William im Morgenrock mitten auf der Straße, wutschnaubend damit beschäftigt, Ezras Aquarelle zu zerfetzen, während Ezra ihn aus Leibeskräften beschimpft und verflucht? Ja, da könnten wir ein Mordmotiv haben. Ich glaube nicht, daß ein Maler es gut verträgt, wenn ihm jemand seine Arbeiten
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