01 - Gott schütze dieses Haus
rechnete fast mit einer Wiederholung ihres Verschwindens am vergangenen Abend im Dove and Whistle. Doch sie kam einen Augenblick später mit einem Krug Orangensaft und einem Glas zurück.
»Danke, Barbara«, sagte er.
Sie nickte ihm mit einem zaghaften Lächeln zu und schenkte Tessa ein.
Tessa nahm das Glas, aber sie trank nicht, hielt es nur fest umklammert, als gäbe es ihr Halt.
»Rebecca darf mich so nicht sehen. Ich muß mich zusammennehmen.« Sie sah das Glas in ihrer Hand, trank einen Schluck und verzog das Gesicht. »Ich kann Orangensaft aus der Dose nicht ausstehen. Warum habe ich ihn überhaupt im Haus? Russell sagt immer, er sei gar nicht so schlecht. Wahrscheinlich hat er recht.« Verzweifelt drehte sie sich zu Lynley um und stieß hervor: »Er hat William nicht getötet.«
»Das gleiche sagen in Keldale alle von Roberta.«
Sie zuckte zusammen. »Ich empfinde nichts für sie. Es tut mir leid. Ich habe sie nie gekannt.«
»Sie wurde in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, Mrs.
Mowrey. Als William gefunden wurde, behauptete sie, ihn getötet zu haben.«
»Wenn sie es zugegeben hat, warum sind Sie dann zu mir gekommen? Wenn sie sagt, daß sie William getötet hat, kann Russell unmöglich -« Sie brach ab, als wäre ihr plötzlich bewußt geworden, wie gern sie bereit war, die Tochter dem Mann zu opfern.
Man konnte ihr kaum einen Vorwurf daraus machen. Lynley dachte an die Stallbox, an die Bibel, das Fotoalbum, die Totenstille im Haus.
»Haben Sie Gillian nie wiedergesehen?« fragte er abrupt und wartete auf ein Zeichen, einen winzigen Hinweis nur, daß Tessa von Gillians Verschwinden wußte. Es kam keines.
»Nein, nie.«
»Sie hat sich nie mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«
»Natürlich nicht. Selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte William es ihr nicht erlaubt, da bin ich sicher.«
Nein, wahrscheinlich nicht, dachte Lynley. Aber nachdem sie fortgegangen war, nachdem sie alle Brücken zu ihrem Vater abgebrochen hatte - warum hatte sie da nicht bei ihrer Mutter Zuflucht gesucht?
»Ein religiöser Fanatiker«, erklärte Barbara mit Entschiedenheit. Sie schob sich das Haar hinter die Ohren und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Fotografie in ihrer Hand. »Aber der hier ist nicht übel. Sie hat einen guten Griff getan beim zweiten Versuch. Schade, daß sie sich vorher nicht scheiden ließ.«
Russell Mowrey blickte sie von dem Foto, das Tessa ihnen gegeben hatte, lächelnd an. Ein sympathischer Mann im hellen Anzug, die Ehefrau am Arm. Ostersonntag. Barbara steckte das Bild in den braunen Umschlag und sah zum Fenster hinaus. »Wenigstens wissen wir jetzt, warum Gillian gegangen ist.«
»Wegen der Frömmigkeit ihres Vaters?«
»So seh' ich es jedenfalls«, antwortete Barbara. »Die übertriebene Frömmigkeit des Vaters und das zweite Kind. Acht Jahre lang war sie der absolute Mittelpunkt im Leben ihres Vaters - die Mutter scheint keine große Rolle gespielt zu haben -, und plötzlich ist ein zweites Kind da. Es soll eigentlich Mama gehören, aber Papa hat kein rechtes Vertrauen zu Mamas Fähigkeiten, mit ihren Kindern umzugehen, also nimmt er das zweite auch unter seine Fittiche. Mama geht, und Gillian folgt nach.«
»Ganz so war es nicht, Havers. Sie wartete acht Jahre, ehe sie ging.«
»Na ja, sie konnte schließlich mit ihren acht Jahren nicht weglaufen. Sie wartete eben ab und haßte Roberta wahrscheinlich dafür, daß sie ihr den Vater gestohlen hatte.«
»Das reimt sich nicht zusammen. Erst sagen Sie, Gillian ging, weil sie den religiösen Fanatismus ihres Vaters nicht ertragen konnte. Dann sagen Sie, sie ging, weil sie ihn an Robertaverloren hatte. Was trifft nun zu? Entweder liebt sie ihn und möchte wieder sein Liebling sein, oder sie kann seine puritanische Frömmigkeit nicht aushallen und flüchtet. Beides zusammen geht nicht.«
»Warum muß denn immer alles schwarz oder weiß sein?« protestierte Barbara erregt. »Das ist doch nie so im Leben.«
Lynley warf ihr einen Blick zu, verdutzt über den heftigen Ton. Ihr Gesicht wirkte fahl.
»Barbara -«
»Es tut mir leid! Verdammt noch mal, jetzt fang' ich schon wieder an. Am besten, ich geb' auf. Ich kann's einfach nicht. Immer tu' ich das gleiche. Nie kann ich -«
»Barbara«, unterbrach er sie ruhig.
Sie starrte geradeaus. »Ja, Sir?«
»Wir sprechen hier über den Fall. Wir plädieren nicht vor einem Gericht. Es ist gut, wenn man eine Meinung hat. Ich möchte sogar, daß Sie eine haben. Ich habe die Erfahrung gemacht,
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