01 - Gott schütze dieses Haus
hatten und den Weg durch den Korridor antraten, der sie mit ruhigen Landschaftsbildern und Vasen voll frischer Blumen empfing. Aus der Ferne drangen Musik und Gesang zu ihnen.
»Der Chor«, erklärte Dr. Samuels. »Bitte, hier entlang.«
Auch über die Person Samuels' war sie positiv überrascht gewesen. Hätte Barbara ihn außerhalb der Anstalt getroffen, sie hätte nie erraten, daß er Psychiater war. Bei dem Wort Psychiater stellte sich bei ihr automatisch das Bild Freuds ein: ein bärtiges viktorianisches Gesicht, eine Zigarre, kluge, taxierende Augen. Samuels aber sah aus wie ein Mann, dem es mehr Freude machte, im Hochmoor zu wandern, als im gestörten Seelenleben anderer herumzustochern. Er hatte einen kräftigen, langgliedrigen Körper, ein gebräuntes, glattrasiertes Gesicht und, wie Barbara argwöhnte, eine Tendenz, mit Leuten, deren Intelligenz der seinen nicht gewachsen war, schnell ungeduldig zu werden.
Ihre Beklommenheit war fast ganz verschwunden, als Dr. Samuels eine schmale Tür öffnete - völlig unauffällig in der Wandtäfelung -, die in einen anderen Trakt des Gebäudes führte. Dies war die geschlossene Abteilung, und sie war ähnlich, wie Barbara sich eine solche Abteilung immer vorgestellt hatte. Der Teppichboden, ein sehr dunkles Braun, war sicher leicht zu pflegen. Die Wände waren sandfarben, schmucklos, unterbrochen nur von den Türen, in die auf Augenhöhe kleine Fenster eingelassen waren. Es roch nach Desinfektions- und Reinigungsmitteln, und durch den kahlen Gang zog ein leises Stöhnen, das von überall und nirgends zu kommen schien. Es konnte der Wind sein. Es konnte aber auch etwas ganz anderes sein.
Hier ist es, sagte sie zu sich selbst. Der Platz für die Verrückten, für Mädchen, die ihre Väter enthaupten, für Mädchen, die morden. Es gibt viele Arten von Mord, Barb.
»Sie hat seit ihrer ursprünglichen Erklärung nicht mehr gesprochen«, bemerkte Samuels. »Sie ist nicht katatonisch. Sie hat lediglich alles gesagt, was sie zu sagen gedenkt, meine ich.« Er warf einen Blick auf die Agenda in seiner Hand. »›Ich war's. Es tut mir nicht leid.‹ Am Tag, als die Leiche gefunden wurde. Seitdem hat sie kein Wort mehr gesprochen.«
»Und das hat keine körperlichen Ursachen? Sie wurde untersucht?«
Samuels kniff pikiert die Lippen zusammen. Es war klar, daß er dieses Eindringen Scotland Yards als Affront empfand, und wenn er schon Auskünfte geben mußte, würde er sie auf ein Minimum beschränken.
»Sie wurde untersucht«, sagte er. »Kein Anfall, kein Schlaganfall. Sie kann sprechen. Aber sie will nicht.«
Wenn die brüske Art des Arztes ihm zu schaffen machte, so ließ Lynley es sich nicht merken. Er traf immer wieder auf diese Haltung, die Polizei als abzuwehrenden Gegner und nicht als willkommenen Helfer zu sehen. Er ging etwas langsamer und berichtete Samuels von Robertas geheimem Vorratslager. Das wenigstens trug ihm die Aufmerksamkeit des Arztes ein.
»Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, Inspektor«, bekannte er. »Das Essen kann, wie Sie vermuten, ein Zwang sein. Es kann ein Stimulus oder eine Reaktion sein. Es kann eine Form der Befriedigung oder der Sublimierung sein. Solange Roberta nicht bereit ist, uns einen Hinweis zu geben, kann es praktisch alles sein.«
Lynley schwenkte zu einem anderen Thema um.
»Warum haben Sie sie von der Polizei in Richmond übernommen? Ist das nicht etwas irregulär?«
»Nein, sie wurde ja völlig regulär eingewiesen«, entgegnete Samuels. »Wir sind ein privates Krankenhaus.«
»Von wem wurde sie denn eingewiesen? Von Superintendent Nies?«
Samuels schüttelte ungeduldig den Kopf.
»Aber nein. Wir handeln doch nicht auf das Wort eines x-beliebigen Polizeibeamten.« Er überflog Robertas Krankenblatt. »Es war - Augenblick mal - Gibson. Richard Gibson. Er bezeichnet sich als ihren nächsten Verwandten. Er erwirkte die Zustimmung des Gerichts und erledigte die Formalitäten.«
»Richard Gibson?«
»Richtig«, bestätigte Samuels kurz. »Er hat sie eingewiesen. Zumindest bis zum Prozeß. Sie ist in täglicher Behandlung. Bis jetzt ist noch kein Fortschritt feststellbar, aber das heißt nicht, daß es überhaupt keinen geben wird.«
»Aber weshalb sollte Gibson -«
Lynley sprach mehr zu sich selbst, doch Samuels unterbrach ihn, vielleicht in der Annahme, daß die Worte an ihn gerichtet waren.
»Sie ist seine Cousine. Und je eher es ihr bessergeht, desto eher findet der Prozeß statt. Es sei denn, es erweist sich,
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