01 - Gott schütze dieses Haus
zerreißt.«
»Aber wieso war er im Morgenrock? Draußen war's doch noch hell. Um die Zeit geht doch kein Mensch schlafen.«
»Vielleicht hat er sich zum Abendessen umgezogen. Er ist oben in seinem Zimmer, schaut zum Fenster hinaus, sieht Ezra auf seinem Land und rast hinunter wie ein Berserker.«
»Ja, so könnte es natürlich gewesen sein.«
»Wie sonst?«
»Vielleicht machte er Gymnastik.«
»Kniebeugen in der Unterhose? Kann ich mir schwer vorstellen.«
»Mit Olivia vielleicht.«
Lynley lächelte. »Das glaube ich nicht, wenn alles stimmt, was wir über ihn gehört haben. Das dürfte vor der Heirat für ihn tabu gewesen sein.«
»Und was ist mit Nigel Parrish?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Na, glauben Sie ihm etwa, daß er den Hund aus reiner Herzensgüte auf den Hof zurückgeführt hat? Da ist doch was faul.«
»Richtig. Aber können Sie sich vorstellen, daß Parrish bereit wäre, sich an William Teys' Blut die Hände zu beschmutzen? Ganz zu schweigen davon, wie er den Anblick des abgeschlagenen Kopfes ertragen hätte.«
»Hm, ja, da wäre er wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen.« Sie lachten. Zum erstenmal gemeinsam. Das Lachen schlug beinahe augenblicklich in unbehagliches Schweigen um bei der Erkenntnis, daß sie Freunde werden könnten.
Der Entschluß, nach Barnstingham zu fahren, reifte aus Lynleys Überzeugung, daß Roberta den Schlüssel zur Lösung aller Fragen besaß, die sie beschäftigten: wer der Mörder war, welches Motiv hinter dem Verbrechen stand; was es mit Gillians Verschwinden auf sich hatte. Er hatte von unterwegs angerufen, um sie anzumelden. Als er jetzt den Bentley auf der gekiesten Auffahrt vor dem Gebäude anhielt, wandte er sich Barbara zu.
»Zigarette?« Er hielt ihr das goldene Etui hin.
»Danke nein, Sir.«
Er nickte, betrachtete einen Moment den imposanten Bau, sah dann wieder Barbara an. »Möchten Sie lieber hier draußen warten, Sergeant?« fragte er, während er sich seine Zigarette mit einem silbernen Feuerzeug ansteckte.
»Warum?« Sie beobachtete ihn scharf.
Er zuckte lässig die Achseln. Allzu lässig, fand sie.
»Sie sehen ganz schlapp aus. Ich dachte, Sie würden gern eine kleine Verschnaufpause einlegen.«
Schlapp. Internatsjargon. Jetzt schlüpfte er wieder in die Rolle des ehemaligen Eton-Schülers. Ihr war schon aufgefallen, wie er sich ihrer gelegentlich bediente, wenn es ihm zweckmäßig erschien. Warum gerade jetzt?
»Wieso reden Sie von mir? Sie selbst sehen auch ganz schön mitgenommen aus, Inspector. Was meinen Sie wirklich?«
Bei ihren Worten sah er in den Spiegel, die Zigarette zwischen den Lippen, die Augen gegen den Rauch zusammengekniffen. »Ja, ich seh' wirklich nicht gerade aus wie das blühende Leben.« Er begann, an sich herumzuzupfen: rückte die Krawatte zurecht, fuhr sich durch das Haar, wischte ein nicht vorhandenes Stäubchen vom Revers seines Jacketts. Sie wartete. Endlich schaute er sie an. Die Maske war plötzlich von ihm abgefallen.
»Der Hof hat Sie gestern ein bißchen aus der Fassung gebracht«, sagte er offen. »Ich habe das Gefühl, daß uns hier noch viel Schlimmeres erwartet.«
Einen Moment lang schaffte sie es nicht, ihren Blick von seinem zu lösen; dann zwang sie sich, zur Tür zu greifen und sie aufzustoßen.
»Ich kann's aushalten, Sir«, sagte sie abrupt und stieg aus.
»Sie ist in der geschlossenen Abteilung«, sagte Dr. Samuels zu Lynley, während sie durch den Korridor gingen, der von Osten nach Westen quer durch das ganze Gebäude führte.
Barbara folgte mit etwas Abstand, froh, daß Barnstingham nicht so war, wie sie es sich vorgestellt hatte, als sie das Wort Nervenheilanstalt gehört hatte. Der englische Barockbau hatte kaum Ähnlichkeit mit einem Krankenhaus. Die Eingangshalle, über zwei Stockwerke reichend, mit geriffelten Pilastern an den Wänden, war hell und luftig, die Wände in beruhigendem Apricot gestrichen, die Stuckverzierungen weiß, während der flauschige Teppich einen hellen Rostton hatte.
Barbara war erleichtert. Als Lynley zuerst von seiner Absicht gesprochen hatte, hierherzufahren, weil er es für dringend notwendig hielt, Roberta wenigstens zu sehen, war ihr flau geworden, und die heimtückische alte Beklemmung hatte von ihr Besitz ergriffen. Lynley hatte es natürlich gemerkt. Verdammt. Dem entging aber auch gar nichts.
Jetzt, wo sie im Haus war, fühlte sie sich wieder ruhiger, und das gute Gefühl verstärkte sich, nachdem sie die hohe Eingangshalle hinter sich gelassen
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